Das Zimmer hinter dem Schrank

In der neuen Dauerausstellung des Museums Blindenwerkstatt Otto Weidt wird eines großen Mannes gedacht, der Jüdinnen und Juden in der Nazi-Zeit beim Überleben half

Von Klaus Hillenbrand

Der abgetretene Dielenboden, der noch Spuren rostroter Farbe trägt, knarrt vernehmlich, betritt man die Ausstellung, die über einen ganz besonderen Mann erzählt. Dass der nicht allzu begütert gewesen sein muss, lässt sich schon an der Adresse erkennen: Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte, der Seitenflügel im Hinterhof, ein schmales, mehrgeschossiges Haus. Hier, im ersten Stock, befand sich der Sitz eines Unternehmens. Sein Mitbesitzer Otto Weidt mag kein reicher Mann gewesen sein, aber hatte ein großes Herz. Denn in dieser Etage half der bekennende Anarchist während des Judenmords in den 1940er Jahren verfolgten Menschen.

Otto Weidt betrieb seit 1939 eine Blindenwerkstätte: In der Rosenthaler Straße fertigten blinde und sehbehinderte Menschen Besen und Bürsten an. Es waren in ihrer Mehrheit Jüdinnen und Juden, die über die „Einsatzstelle für Juden“ beim Arbeitsamt dort eine Arbeit fanden, also eine Zwangsarbeit. Aber es war, wie schnell deutlich wird, nicht nur das. Für viele war es ihre Rettung.

Denn Otto Weidt, der selbst erblindet war, hasste die Nazis. Er unterstützte seine etwa 35 Arbeiterinnen und Arbeiter, wo er nur konnte, steckte ihnen Lebensmittel zu, verschickte Essenspakete an Deportierte in das Getto Theresienstadt. Besorgte gefälschte Papiere. Die Gestapo ging in der Werkstatt ein und aus, doch Weidt täuschte die Geheimpolizei. Er verfügte über gute Verbindungen zu den Beamten des nächstgelegenen Polizeireviers, die ihn warnten, wenn wieder einmal eine Kontrolle oder Deportation drohte. Hinter dem Mann stand ein Netzwerk weiterer Helferinnen und Helfer.

Die Anfang Mai eröffnete neue Dauerausstellung im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt zur Erinnerung an den Retter ist lang und schmal, weil sie genau dort platziert ist, wo diese Hilfe stattfand – in den Räumen der früheren Werkstatt. Das Mobiliar der Schau ist in strahlendem Weiß gehalten und bildet einen seltsamen Gegensatz zu den abgetretenen Dielen. Da liegt die „Kennkarte für Juden“ von Martin Deutschkron, der „Judenstern“ von Hans Israelowicz, ein Papier, das Walter Neumann ultimativ dazu aufforderte, seinen Hund wegzugeben oder töten zu lassen, weil Juden ab 1942 keine Haustiere mehr halten durften. Vor dem Mord stand die Erniedrigung.

Inwieweit die Hilfe für Juden mit Weidts Bekenntnis zum Anarchismus zu tun hat, bleibt in der Schwebe

In einer anderen Vitrine sieht man eine Zeitungsanzeige, rechteckig und mit zweifachem „Achtung!“ überschrieben. Es folgt die Einladung zu einer öffentlichen Versammlung. „Tagesordnung: Gründung eines anarchistischen Agitations-Vereins für Berlin und Umgebung“. Das Blatt stammt von 1906. Unterzeichnet hat es Otto Weidt.

Inwieweit das eine – die Hilfe für Juden – mit dem anderen – Weidts Bekenntnis zum Anarchismus – zu tun hat, bleibt in der Schwebe. Aber gewiss wird sein Streben nach Freiheit und Solidarität nicht gerade hinderlich für sein Lebensrettungswerk gewesen sein.

Weidts Betrieb galt als „kriegswichtig“. Das erläuterte der Besitzer immer wieder gegenüber den Gestapo-Beamten, wenn diese wieder einmal einige seiner Jüdinnen und Juden in den Tod deportieren wollten. Wenn nichts anderes half, griff er zum Mittel der Bestechung. Otto Weidt und seine Helfer besorgten Verstecke und fanden andere Menschen, die ihrerseits dazu bereit waren, Juden zu verbergen.

Blick in die neue Dauerausstellung im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt. Das Foto zeigt den Anarchisten, der viele Jüdinnen und Juden versteckte Foto: Georg Engels, Ulm

Da war Alice Licht, die als Weidts Sekretärin arbeitete. Im Februar 1943 verbarg Weidt sie und ihre Eltern in einem Lagerraum. Doch das Versteck wurde verraten, Alice Licht festgenommen und deportiert. Otto Weidt reiste unter einem Vorwand nach Auschwiz, folgte der Verschleppten nach Groß Rosen und nahm über einen Mittelsmann Kontakt zu ihr auf. Alice Licht gelang die Flucht. Das Kriegsende erlebte sie beim Ehepaar Otto und Else Weidt in Berlin.

Nicht alle seine Schützlinge konnte Otto Weidt retten. Ganz am Ende der Ausstellung steht ein schlichter weißer Schrank. Es ist nicht das Modell, das hier einmal gestanden haben muss. Aber wenn man die Türen des Möbelstücks öffnet, dann zeigt sich hinter der offenen Rückwand wie vor 80 Jahren ein Mauerdurchbruch, dahinter ein fensterloser Raum mit nackten Wänden. Hier verbargen sich 1943 Chaim, Machla, Max und Ruth Horn. Im Oktober desselben Jahres flog das Zimmer hinter dem Schrank bei einer Razzia auf. Familie Horn wurde nach Auschwitz deportiert. Niemand von ihnen ist zurückgekehrt.

Otto Weidt musste zur Gestapo, aber er entging einer Bestrafung. Wahrscheinlich hat er die Beamten bestochen.

Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Str. 39, Berlin-Mitte, täglich geöffnet, Eintritt frei. Der Katalog kostet 8 Euro