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Und weiter, immer weiter

Tom Gröschel ist ein deutscher Spitzenläufer, der seine Rolle aufgrund des Booms von Spitzenzeiten im Marathon neu suchen muss. Ein Gespräch mit einem Mann, der einen Ruhepuls von 38 und geschultes Durchhaltevermögen hat

Von Markus Völker

Kelvin Kiptum hat London als reicher Mann verlassen. Er gewann den Marathon, die klassische Strecke über 42,195 Kilometer. Er lief die zweitbeste Zeit, die jemals auf diesem Globus gestoppt wurde: 2:01:25 Stunden. Nur der Wunderläufer Eliud Kipchoge, auch er ein Kenianer, lief in einem regulären Straßenrennen schneller. 16 Sekunden. Kiptum sackte über 100.000 Pfund ein.

Tom Gröschel hat sich in der britischen Hauptstadt gerade mal etwas über 1.000 Euro erlaufen, „ein Taschengeld“. Der deutsche Langstreckenspezialist aus Rostock kam als Zwölfter ins Ziel. Seine Zeit: 2:13:29 Stunden. Zwölf Minuten Rückstand, das scheint nicht viel zu sein, aber in der Marathonszene, in der Fabelzeiten total normal geworden sind, die Spitzenkräfte um Tamirat Tola oder Mosinet Geremew in der Lage sind, 42-mal hintereinander den Kilometer deutlich unter drei Minuten zu laufen, sind die afrikanischen Läufer unerreichbarer denn je. Immer mehr Lauftalente aus dem afrikanischen Hochland, aus Kenia, Äthiopien, Eritrea, Uganda oder Somalia, strömen zu den europäischen Straßenläufen, um sich ihren Traum von Ruhm und Reichtum zu erfüllen.

Und in Rostock sitzt dieser deutsche Läufer, der sich auch jeden Tag quält, in sechs Monaten fast 4.000 Kilomter gejoggt, seit Januar Vater geworden ist, deswegen schlechter schläft und sich immer wieder fragt, wie er dem Boom der Superzeiten widerstehen kann. Macht das alles noch Sinn? Soll er noch einmal all-in gehen, ans absolute Limit? Gröschel sagt, er sei sehr dankbar für das Erlebnis in London: „Es war immerhin der drittschnellste Marathon meines Lebens, und na ja, es ist halt Marathon, da muss alles zusammenpassen, damit es bei mir Richtung Bestzeit gehen kann.“ Die liegt bei 2:11:02 Stunden, erlaufen im Jahr 2021 in Valencia.

Das Wetter in London war schlecht. Es regnete, der Wind blies recht stark. Weil Gröschels Trikot wegen der Widrigkeiten bereits am Start am Brustkorb klebte, verkrampfte sich früh das Zwerchfell. In der Seite zwickte es. Nach gut 65 Minuten hatte er die Hälfte des Laufs geschafft, aber da war er schon allein, kämpfte sich als Solist durch – und versuchte das Beste aus der misslichen Situation zu machen: „Ich lief allein über die Tower Bridge, rechts und links die Massen, die mir zujubelten. Das kann mir keiner mehr nehmen.“ Es ist ein Frage der Per­spek­ti­ve: Laufen als Rekordhatz oder Erlebnis.

Der 31-Jährige ist viele Jahre Normen und Ansprüchen anderer hinterhergerannt, ist zweimal deutscher Marathonmeister geworden und hat sich über den Asphalt von Düsseldorf oder Hannover geschoben, jetzt möchte er auch endlich mal die „geilen“ Groß­events „genießen“, wie er sagt, denn er habe doch irgendwie das Gefühl, „auf der Zielgeraden seiner Karriere“ zu sein. Oder doch nicht? Es ist kompliziert, wie immer, wenn das echte Leben den eigenen Ambitionen in die Quere kommt. Gröschel läuft seit 15 Jahren auf höchstem Niveau, und trotzdem hat wohl noch kein Sportfan in Deutschland jemals seinen Namen gehört. Der Athlet läuft im Verborgenen, hier und da versucht er über eine eigene Website und Instagram Aufmerksamkeit zu erzeugen, für seinen Ausrüster Werbung zu machen. Aber wenn er nicht gerade wie sein Kollege Richard Ringer die Marathon-EM gewinnt, dann erreichen seine Bemühungen nur ein kleines Fachpublikum.

Der neue Marathon-Bundestrainer Matthias Kohls weiß nicht sonderlich viel über Gröschel zu sagen; dieser finde sicherlich sein Auskommen in der Marathonszene durch die wieder stark aufkeimende Konkurrenz der Sportartikelhersteller, sagt er etwas kryptisch. Der alte Bundestrainer hieß Tono Kirschbaum, und der ließ Gröschel nicht nur bei der Ernährung einigermaßen freie Hand, er schaute auch mit dem Blick eines wohlwollenden Herbergsvaters auf das Treiben der Lauf-WG, die sich in Bochum zusammengefunden hatte. Gröschel lebte dort sechs Jahre „wie im Trainingslager“, Tür an Tür mit Amanal Petros oder Hendrik Pfeiffer. Vor einigen Monaten ging er zurück nach Rostock, in seine Mecklenburger Heimat, um eine Familie zu gründen. Er ist Mitglied des Triathlonclubs Fischkombinat (Fiko) Rostock, aber die schnellen Trainingsläufe musste er letzthin immer alleine bestreiten. Niemand in Rostock kann ihm folgen. „Die letzten sechs Monate bin ich schon sehr hart mit mir ins Gericht gegangen“, sagt er und spricht über die Schwierigkeit des Alleinlaufs: „In der Gruppe kann ich die Qualität höher halten.“

Polizist, hintere Reihe

Gröschel ist Polizeibeamter, zwei, drei Monate im Jahr muss er Dienste ableisten. Das macht er bei der Bereitschaftspolizei in Mecklenburg-Vorpommern. „Ich stehe bei Fußballspielen oder Großveranstaltungen in der Polizeikette, nicht erste Reihe, eher ganz hinten, weil man mit mir nichts anfangen kann.“ Ob er bei der Polizei bleibt, weiß er noch nicht. Viel Erfahrung habe er nicht. Auch da steht die Karriere unter Vorbehalt. So wie im Sport, und das hat mit einer Situation zu tun, die der Bundestrainer „komfortabel“ findet.

Neben Richard Ringer, dem Europameister, der mit 2:08:08 Stunden bereits die Norm für die Olympischen Spiele in Paris unterboten hat, gibt es mindestens drei Läufer, die in Ost­afrika geboren sind, nun aber einen deutschen Pass und große Ambitionen haben. Zuerst ist da der aus der äthiopischen Region Tigray geflüchtete Amanal ­Petros, der heuer auch schon eine fantastische Zeit verbuchen kann: 2:07:02 Stunden. Petros wurde in Eritrea geboren, flüchtete mit der Familie über die Grenze, aber auch da war er nicht sicher. Eingebürgert wurden auch der Äthiopier Haftom Welday und Filimon ­Abraham aus Eritrea. Welday, der in Hamburg lebt und arbeitet, hat wie seine Kollegen enormes Potenzial. Seine Jahresbestzeit: 2:09:40 Stunden. Auch der im Allgäu angekommene Abraham machte Schlagzeilen: Kein Athlet des Deutschen Leichtathletik-Verbands war bei seinem ersten voll­endeten Marathon je schneller als der 30-Jährige: „Filimon Abraham ist in Barcelona“, berichtete der DLV unlängst, „mit einer Zeit von 2:08:22 Stunden auf Anhieb in die europäische Spitze gestürmt.“

Neulinge, ambitioniert

„Bin sehr hart mit mir ins Gericht gegangen“

Tom Gröschel, Marathonläufer

Was alle drei Neubürger vereint: Sie entdeckten erst in Deutschland ihr Lauftalent, wurden gefördert – und sind nun zu Rivalen von Tom Gröschel geworden, der die Herausforderung aber sportlich nimmt: „Ich kenne die Läufer alle persönlich, weiß um ihre Schicksale.“ Vorwürfe mache er ihnen selbstverständlich nicht. Ihr Erscheinen belebe das Geschäft. „Es zeigt ja auch mir, in welche Bereiche man kommen kann.“ Nichtsdestotrotz wird in der Laufszene darüber diskutiert, dass manch einer von den Neuen in das Land zum Trainingslager zurückkehrt, aus dem man geflüchtet ist. „Das muss nicht sein“, findet Gröschel, „aber das schmälert die sportliche Leistung nicht.“

Tom Gröschel hat diesen Winter die Trainingslager im kenianischen Iten ausgelassen. Sonst ist er regelmäßig im Januar und März nach Afrika geflogen, um in der Höhe an der Form zu arbeiten. Wenn er da mit Petros über die rote Erde lief, merkte er, dass der Kollege viel besser mit der dünneren Luft klarkommt. Er konnte ihm kaum folgen. Es könne jetzt immer mal passieren, mutmaßt Gröschel, dass er, der früher mit seinen Zeiten over-the-top in Deutschland gewesen wäre, nun aus dem Per­spek­tiv­ka­der fliegt, weil die Leistung nicht mehr stimmt. Es habe Zeiten gegeben, vor allem während Corona, da habe er sich gefragt: „Ist das noch der Sport, für den ich mir täglich den Arsch aufreiße!?“

In London ist ihm eine Antwort darauf eingefallen: Ja, doch.

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