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Der Trosttank ist leer

Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern wird zurücktreten. Nach fünfeinhalb von Krisen geplagten Jahren habe sie keine Kraft mehr. Am Sonntag soll ihre Nachfolge verkündet werden

Aus Sydney Urs Wälterlin

Jacinda Ardern standen die Tränen in den Augen, als sie am Donnerstag eine der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens bekannt gab. Nach fünfeinhalb von Krisen und Katastrophen geprägten Jahren hat sie genug. Bereits in zweieinhalb Wochen, am 7. Februar, werde sie ihr Amt aufgeben, sagte die 42-Jährige.

„Ich weiß, was man für diesen Job braucht, und ich weiß, dass ich nicht mehr genug im Tank habe. Es ist so einfach“, begründete sie ihre Entscheidung bei ihrer ersten Pressekonferenz in diesem Jahr. „Wir alle geben, solange wir geben können, und dann ist es vorbei. Und für mich ist es nun an der Zeit.“

Ihr Abgang tritt mit der Ernennung eines Nachfolgers in Kraft. Schon am Sonntag soll ein neuer Vorsitzender der Labour-Partei gewählt werden. Gleichzeitig gab Ardern das Datum für die nächste Parlamentswahl bekannt: Der Pazifikstaat geht am 14. Oktober an die Urnen.

Die meisten Beobachter und viele ihrer Kollegen und Kolleginnen hatten keine Ahnung von ihrer bevorstehenden Entscheidung. Auch ihrer fünfjährigen Tochter Neve habe sie nichts gesagt, so Ardern. Denn kleine Kinder seien dafür bekannt, „dass sie gerne plaudern“.

Dass ihr Rücktritt mit sinkenden Umfragewerten zusammenhängt, weist Ardern zurück

Es ist kein Zufall, dass die Regierungschefin ihre Tochter erwähnte. Neve war ein wesentlicher Grund für Ardern, den Schritt aus dem höchsten politischen Amt zu wagen. Sie wolle dabei sein, wenn das Kind seinen ersten Tag in der Schule erlebe. Und ihrem langjährigen Partner Clark Gayford versprach sie: „Lass uns heiraten“.

Emotionen – sie zeichneten den Weg der Polizistentochter in der Politik. Als Jungsozialistin und Mitarbeiterin der neuseeländischen Premierministerin Helen Clark und schließlich als Regierungschefin. Es war ein Posten, zu dem sie fast nur per Zufall gekommen war. Nachdem ihr Vorgänger an der Spitze der Labour-Partei wegen miserabler Umfragewerte zurückgetreten war, kam sie als seine Stellvertreterin an die Spitze. Kurz darauf wurde sie gewählt – und war 2017 mit damals 37 Jahren die jüngste Ministerpräsidentin der Welt. Es gab nicht wenige Skeptiker, und das auch in einem Land, in dem starke Frauen in der Politik nicht unbekannt sind – Helen Clark ist nur ein Beispiel. Ardern sei zu jung, meinten einige. Zu unerfahren, sagten andere. Und sie sei eine Frau. Doch Jacinda Ardern zeigte bald, dass die Skeptiker unrecht hatten.

Es waren mehrere Schicksalsschläge, die den Namen Ardern weit über die Grenzen bekannt machten und ihr zu Hause größtes Ansehen verschafften – oftmals auch unter politischen Gegnern. Die Medien erfanden für die kollektive Begeisterung ein Wort: Jacindamania.

Die Welt lernte Jacinda Ardern zum ersten Mal kennen, als sie 2019 die Angehörigen von Opfern eines rassistisch motivierten Terrorattentats auf zwei Moscheen in Christchurch tröstete. Statt die Tragödie politisch auszunutzen, spendete sie Trost – mit einem muslimischen Kopftuch bekleidet.

Mit Baby in New York: Um ein Zeichen in Sachen Frauenrechte zu setzen, nahm Jacinda Ardern 2018 mit ihrer Tochter Neve an einer UN-Voll­versammlung teil Foto: Carlo Allegri/reuters

Trost zu spenden, wurde auf tragische Weise zu einer Art Markenzeichen der jungen Politikerin. Nur Monate später wurde Neuseeland erneut von einer Katastrophe erschüttert. Bei einem Ausbruch des Vulkans White Island starben 22 Menschen. Ardern war dort, umarmte die Überlebenden und tröstete jene, die ihre Liebsten in heißer Asche und glühender Lava verloren hatten.Doch Arderns Beliebtheit in der Bevölkerung auf eine Reihe publizitätswirksamer Tragödien zu reduzieren, wäre falsch. Die Politikerin war eine sehr effektive und effiziente Führungsperson. Beobachter rund um den Globus bewunderten die Entschlossenheit, mit der sie eine praktisch komplette Abdichtung der Grenzen durchsetzte, um den Ausbruch von Covid-19 zu verhindern. Zur Verblüffung vieler ausländischer Beobachter machten die „Kiwis“, wie sich Neuseeländer gerne selbst nennen, mehr oder weniger bereitwillig mit.

Zwar hatte die wirtschaftlich fundamental wichtige Tourismusindustrie ein Nahtoderlebnis. Doch gleichzeitig lebten die Neuseeländer in einem fast parallelen Universum, in dem der Alltag beinahe normal weiterging. Erst Ende 2021 wurde die strikte Strategie der Komplettverhinderung von Covid-Infektionen aufgehoben. Experten sind heute der Meinung, dass die Grenzschließung Tausende von Menschenleben gerettet habe – und das in einem Land von nur fünf Millionen Einwohnern.

Es dürfte in den kommenden Tagen darüber spekuliert werden, ob Ardern wegen schlechter Umfragezahlen der Labour-Partei vor den Wahlen im Oktober den Notfallschirm gezogen habe. Tatsächlich ist das Ansehen ihrer Partei und Arderns in den letzten Monaten deutlich gesunken. Dass ihr Rücktritt damit zusammenhängt, wies Ardern allerdings entschieden zurück. „Ich gehe nicht, weil ich denke, dass wir die nächsten Wahlen nicht gewinnen können – sondern weil ich glaube, dass wir es können und auch werden“, sagte sie.

Empathischer Führungsstil: Nach dem rassistsch motivierten Terroranschlag in Christchurch tröstet Ardern ein Mitglied der ­muslischem Gemeinde Foto: Fo­to:­Ha­gen Hopkins/getty

Eine massive Erhöhung der Lebenshaltungskosten – nicht zuletzt als Folge von Covid und dem Ukrainekrieg – haben das Leben vieler Menschen im Antipodenstaat verschlechtert. Kein Problem aber ist so groß und für viele Kiwis entmutigend und frustrierend wie das, was Ardern von der konservativen Vorgängerregierung geerbt hatte: ein katastrophaler Mangel an Wohnraum. Für viele Neuseeländer ist selbst das Mieten einer Wohnung zu teuer geworden – falls sie überhaupt eine finden. Der Traum vom Eigenheim ist für die meisten schon lange gestorben.

Die monumentale Aufgabe der Linderung der Wohnungsnot war ein Problem, für das Jacinda Ardern zu wenig Zeit hatte. Ob Terror, Vulkan oder Covid – „Ich hatte nie wirklich das Gefühl, dass wir nur regieren“, meinte sie. Und jetzt hat sie auch keine Kraft mehr.

taz zwei