Fischsterben droht Wiederholung

Der Naturschutzbund Nabu zeichnet die Katastrophe in der Oder als „Umweltsauerei des Jahres“ aus. Warschau unternimmt jedoch nichts, um den Fluss zu schützen

Insgesamt gab es 350 Tonnen Fischkadaver: Ein toter Blei in der Oder bei Lebus, August 2022 Foto: Patrick Pleul/dpa

Aus Warschau Gabriele Lesser

Es war die wohl größte Umweltkatastrophe 2022 – deshalb bekommt das wochenlange Fischsterben im deutsch-polnischen Grenzfluss Oder in diesem Jahr den Negativpreis „Dinosaurier des Jahres“ des Naturschutzbundes Nabu verliehen. Polnische Industrieunternehmen, aber auch Gemeinden und sogar der Zoologische Garten von Wrocław (Breslau) hatten ihre oft salzhaltigen Abwässer in den Fluss geleitet und ihn auf diese Weise schwer belastet.

„Wer in diesem Jahr nach der größten Umweltsauerei sucht, hat sofort die Umweltkatas­trophe an der Oder vor Augen“, sagte Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger am Dienstag.

Zu den Einleitungen kamen Niedrigwasser und eine ex­treme Sommerhitze. Die Flusstemperatur stieg stellenweise auf rund 27 Grad Celsius und löste eine für Fische, Muscheln und andere Flusslebewesen tödliche Blüte der Goldalge aus. Besonders ins Gedächtnis gebrannt hätten sich, so Krüger, die Bilder von geschätzten 200 bis 400 Tonnen Fischkadaver. Wochenlang musste die toten Tiere mit Schaufelbaggern, aber auch per Hand aus dem Grenzfluss geholt werden.

Die Oder stehe stellvertretend für die kritische Situation an ­vielen Fließgewässern in Deutschland, begründet der Nabu die Vergabe des Preises. Nach wie vor würden Flüsse begradigt, Ufer befestigt und Fahrrinnen vertieft, um eine höhere Fließgeschwindigkeit zu erreichen. Die Folge: Wichtige Lebensräume für Pflanzen und Tiere gehen verloren, die Flüsse werden weniger widerstandsfähig.

Der Verband fordert, alle schädlichen Umwelteinflüsse an deutschen Flüssen sofort zu stoppen. Für die Oder speziell solle ein Moratorium ausgerufen werden, das „sowohl für den Ausbau des Flusses als auch für instandsetzende Unterhaltungsmaßnahmen“ gelten solle.

Politiker der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen weigern sich, eine andere als eine „natürliche Ursache“ für das massenhafte Fischsterben anzunehmen. Deshalb klagten der Nabu, der Deutsche Naturschutzring, der Bund für Umwelt und Naturschutz sowie das Brandenburger Umweltministerium vor einem Verwaltungsgericht in Warschau. Ein erster Erfolg war der gerichtliche Stopp der Oder-Ausbauarbeiten am 9. Dezember. Doch am 21. Dezember, kurz vor Ende der Widerspruchsfrist, legten sowohl die Generaldirektion für Umweltschutz der Republik Polen, als auch die Behörde für Wasserwirtschaft in Warschau Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung ein. Polens Umweltbehörde steht auf dem Standpunkt, dass der Widerspruch gegen eine einstweilige Verfügung diese aufhebt. Deshalb wird erst das Gerichtsurteil nach dem Hauptverfahren im nächsten Jahr rechtsverbindlich sein.

„Wir werden unsere Investitionen mit Sicherheit nicht unterbrechen“, kündigt der stellvertretende Infrastrukturminister Marek Gróbarczyk an. Die neuen Buhnen – in den Fluss hineingebaute kleine Dämme – seien Maßnahmen zum Hochwasserschutz. „Gerade jetzt können wir die Baumaßnahmen nicht unterbrechen, da dies eine Katastrophe nach sich ziehen könnte“, sagte Gróbarczyk dem PiS-nahen Internetportal wPolityce. Zudem müssten nun bald Eisbrecher gefährliche Eiszusammenballungen lösen. „Wir können von Glück sagen, dass wir zur Zeit ein so mildes Wetter haben.“ Die Erfahrung zeige jedoch, „dass wir wahrscheinlich schon bald gegen Eisrückstaus ankämpfen müssen, die Überflutungen auslösen können“. Die ersten eisbrechenden Schiffe seien bereits unterwegs. Sicherheit sei „wichtiger als irgendein richterliches Gutdünken“, so Gróbarczyk.

Ein interner Bericht macht bisher legale Abwässer als Ursache für die Vergiftung aus

Die Umweltschutzverbände und das Land Brandenburg werfen den polnischen Behörden vor, mit dem Abriss der alten Buhnen für die neuen Dämme Sedimentgestein zu lösen, in dem sich über die Jahrzehnte auch Schwermetalle und andere für Fische und Muscheln gefährliche Stoffe festgesetzt hätten. Wenn sich das giftige Sediment im Wasser verbreite, verhindere das, dass sich die Oder und ihre Fischbestände nach der Katastrophe aus dem Sommer erholen könnten.

Inzwischen warnt sogar auch die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita vor einer Wiederholung des massenhaften Fischsterbens in der Oder. Die Redaktion hatte Zugang zu einem internen Expertenbericht bekommen. Dieser war im Auftrag der Regierung erstellt worden und macht ganz eindeutig die bisher vor allem legalen Abwassereinleitungen in die Oder als Ursache für die hohe Salzlast im Fluss und den Tod Hunderttausender Fische verantwortlich.

Bislang jedoch haben die zuständigen Behörden keinerlei Gegenmaßnahmen ergriffen. Im Gegenteil: Laut der Zeitung gibt es zur Zeit 751 Genehmigungen für Abwassereinleitungen in die Oder, 70 Prozent davon hätten die Kommunalverwaltungen erteilt, 230 das Amt für Wasserwirtschaft.