Energiewende mit großem Abstand

Es gäbe in Deutschland genug Platz für Windräder. Dass sie nicht gebaut werden, liegt auch an einem undurchsichtigen Regelwerk. Das ändern die Gesetze, die 2023 kommen, nicht sofort

Von Anja Krüger

Sie sind fertig geplant, genehmigt und bringen mehr Leistung als die deutschen Atomkraftwerke: Windanlagen mit einer Leistung von 6 Gigawatt. Doch ihr Bau scheitert mal an fehlenden Transportgenehmigungen der Behörden vor Ort, mal an Lieferkettenprobleme, mal an drastisch gestiegenen Materialkosten. „Diese Kleinteiligkeit ist es, die den Ausbau der Windenergie bremst“, sagt Thorsten Lenck vom Thinktank Agora Energiewende.

In den vergangenen Jahren ist der Ausbau der Windenergie in Deutschland nur schleppend vorangekommen – denn der frühere Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat ihn eher gebremst als forciert. Sein Nachfolger Robert Habeck (Grüne) will den massiven Ausbau. Das Ziel: Bis 2030 sollen Anlagen mit einer Kapazität von 115 Gigawatt Leistung aufgebaut werden. Zur Zeit sind es etwa 57 Gigawatt. „Wir brauchen bereits ab 2024 einen Zubau von 9 bis 10 Gigawatt im Jahr, um die Ausbauziele zu erreichen“, sagt Lenck. In den vergangenen Jahren waren es weniger als 2 Gigawatt.

Das ist das Resultat der Politik der vergangenen Jahre. Im ersten Halbjahr 2022 gingen nur 238 neue Anlagen in Betrieb, 82 Windanlagen wurden stillgelegt. Dem Halbjahresbericht des Beratungsunternehmens Deutsche WindGuard zufolge produzierten zum 30. Juni 2022 insgesamt 28.287 Anlagen Strom. Dabei geht es nur um Windräder an Land.

„Das wird schwer“

Ein komplexes Geflecht aus Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen steht dem Ausbau im Weg. Die Bundesregierung hat jedoch etliche Maßnahmen für einen beschleunigten Ausbau auf den Weg gebracht, etwa die Änderung des Naturschutzgesetzes. Damit gelten einheitliche Standards für die Prüfung beim Artenschutz. Um Genehmigungen zu erleichtern, wurde gesetzlich klargestellt, dass der Betrieb von Windenergieanlagen „im überragenden öffentlichen Interesse“ liegt und der öffentlichen Sicherheit dient.

Die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ist skeptisch, dass die Maßnahmen der Regierung reichen, um die Ausbauziele für die Windenergie zu erreichen. „Das wird schwer“, sagt sie. Bis 2030 müssten jedes Jahr 2.500 Windenergieanlagen gebaut werden. Nach dem verschleppten Ausbau der Vorgängerregierungen habe die Ampel zwar die richtige Richtung eingeschlagen. „Aber mir fehlt das Tempo“, sagt sie.

Im kommenden Jahr soll sich nun etwas ändern: Das „Windenergie an Land“-Gesetz tritt im Februar in Kraft. Es sieht vor, dass die Bundesländer bis 2032 2 Prozent ihrer Fläche für Windkraft ausweisen müssen. Zur Zeit sind nur 0,8 Prozent ausgewiesen. Ein Knackpunkt: Wie die Länder das Ziel erreichen, bleibt ihnen überlassen. Verfehlen sie es, sollen länderspezifische Abstandsregeln für die Mindestdis­tanz zwischen Windrädern und Gebäuden außer Kraft treten.

Ein Datenprojekt auf der taz-Webseite macht die Wirkmacht unterschiedlicher Abstandsregeln greifbar. In der interaktiven Anwendung kann man erkunden, wie viel Platz für Windkraft noch übrig wäre, wenn strenge Abstandsregeln wie in Bayern in ganz Deutschland gelten würden. Oder wo umgekehrt in Bayern Raum für Windräder entstehen könnte, wenn Regeln vereinfacht würden.

Die Bundesländer haben 2020 vom Bund die Möglichkeit bekommen, einen Mindestabstand von 1.000 Metern zu Wohngebäuden vorzuschreiben. In Bayern gilt die sogenannte 10-H-Regel: der Abstand eines Windrads zum nächsten Wohnhaus mindestens zehnmal so groß sein wie die Höhe des Windrads. Bei einer durchschnittlichen Höhe neuer Anlagen von 200 Metern kommt man da auf 2 Kilometer Abstand.

Für Windenergieanlagen geeignete Flächen sind genug vorhanden, sagt Energieexperte Lenck. Das neue Gesetz sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Eines stehe allerdings schon fest: Um die Ausbauziele zu erreichen, kommen die Zielvorgaben für die Flächenausweisung zu spät. „Die Flächen müssen früher bereitstehen und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden“, fordert er.

Die Abstandsregeln

Wo dürfen in Deutschland Windräder gebaut werden und wo nicht? Was nach einer einfachen Frage klingt, ist im Detail schwer zu beantworten und offenbart einen Bremser der Energiewende: den Verordnungswust des Föderalismus. Einige Vorgaben für Abstände gelten bundesweit, etwa zu Straßen. Wichtig ist das Immissionsschutzgesetz, wo es um Geräusche und Erschütterungen geht. Obwohl es keine Zahl nennt, wird daraus ein Mindestabstand von 400 Metern zu Wohnhäusern abgeleitet. Den Ländern bleibt darüber hinaus viel Spielraum – welcher genau, ist eine Wissenschaft für sich. Die Vorgaben stehen verstreut in Entwicklungsplänen, Leitfäden, Ministeriums-Rundschreiben oder Erlassen, die zum Teil gar nicht mehr gelten und trotzdem angewandt werden. Oft sind es Empfehlungen, von denen im Einzelfall auch abgewichen werden kann. Selbst die Fachagentur Windenergie an Land weist in einer Zusammenstellung von Regeln darauf hin, dass die Angaben nicht vergleichbar seien.

Die interaktive Karte

Der Datenjournalist Michael Kreil hat nun viele dieser Regeln in eine interaktive Karte übertragen. Die Karte ist auf taz.de/windradabstaende zu sehen. Er berücksichtigt dabei unter anderem Wohn-, Gewerbe-, Erholungsgebiete, Campingplätze, Naturschutz- und Vogelschutzgebiete, Bahnstrecken, Freileitungen und Gewässer. Mit der Karte lässt sich erkunden, was verschiedene Windradabstände konkret bedeuten würden. Die Karte zieht dafür entsprechende Umkreise um jedes Gebäude. Um die geografischen Daten, die Michael Kreil für die Anwendung nutzt, gibt es Streit. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte klagt deswegen gemeinsam mit Kreil gegen den Freistaat Bayern. Ziel ist die gerichtliche Feststellung, dass Kreil die Daten für diese Veröffentlichung nutzen darf. Das bayerische Landesamt für Digitalisierung und Vermessung hatte Strafanzeige gegen den Journalisten gestellt. Mehrere andere Bundesländer stellen solche Daten für ihre Gebiete bereits heute offen zur Verfügung. se, lus

3 statt 7 Jahre

Denn bis ein anvisiertes Windrad steht, dauert es Jahre. Der Bau geht mit rund 18 Monaten vergleichsweise schnell. Aber der beginnt erst, wenn sämtliche Genehmigungsverfahren abgeschlossen sind – und die gelten nur für einen bestimmten Windradtyp. Erst wenn die Genehmigung da ist, wird das Windrad bestellt. Gibt es dann einen Lieferengpass, kann der Bauherr nicht einfach auf eine andere Firma umschwenken. Eine Lösung wäre, wenn die Behörden eine Genehmigung für mehrere Anlagenvarianten ausstellen würden, sagt Lenck. Auch ein Baubeginn bei absehbar erfolgreicher Genehmigung, mit dem etwa die Tesla-Fabrik in Brandenburg im Schnelltempo errichtet wurde, würde für eine Beschleunigung sorgen.

Bislang dauern Planungs- und Genehmigungsverfahren im Schnitt 7 Jahre. Die Bundesregierung will das auf 3 Jahre verkürzen. Das ist immer noch zu lang, sagt Energieexpertin Kemfert. „Das darf maximal ein Jahr dauern.“ Die Genehmigung neuer LNG-Terminals ging in wenigen Monaten über die Bühne. Diese Geschwindigkeit muss auch bei Windenergieanlagen erreicht werden, fordert sie.

Damit Windräder bei den Bür­ge­r:in­nen vor Ort akzeptiert werden, ist es wichtig, sie früh in ein Projekt einzubeziehen, sagt Kemfert. Wenn möglich, ist auch eine finanzielle Beteiligung sinnvoll, etwa in Form günstiger Strompreise. In Mecklenburg-Vorpommern geschieht das bereits. Die Ökonomin plädiert dafür, solche Regeln bundesweit einheitlich einzuführen, damit sie rechtssicher sind. Eine stärkere Vereinheitlichung der vielen unterschiedlichen regionalen Vorschriften würde ihrer Auffassung nach dem Ausbau generell einen großen Schub geben. Dafür müsste die Bundesregierung aber sehr viel mehr Vorgaben machen als bisher.