: Prüfungen des Ich
Der Demokratieforscher Pierre Rosanvallon plädiert dafür, die subjektive Erfahrung in die Forschung einzubeziehen, um dem Populismus zu begegnen
Pierre Rosanvallon: „Die Prüfungen des Lebens“. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer. Hamburger Edition 2022, 208 S., 30 Euro
Von Rudolf Walther
Die Mainstream-Soziologie beruht im Wesentlichen auf statistischen Daten und Meinungsumfragen, die aus Durchschnittswerten zu Einkommen, Vermögen Bildungsgang, Religionszugehörigkeit und Herkommen gewonnen werden. Die objektiv erhobenen Daten zur Lebenslage und Biografie der Befragten werden nach bestimmten Methoden der Sozialstatistik auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet.
Aber diese Daten reichen nicht an das persönliche Leben, Erleben und Befinden der wirklichen Existenz der Menschen heran, das heißt, deren existenzielle Dimension, die gekennzeichnet wird von Prüfungen durch Tod, materiellen Verlusten und Lebenskrisen, gehen nicht in soziologische Analysen ein. Die private oder subjektive Seite des Lebens bleibt für die Wissenschaft von der Gesellschaft eine Blackbox, dabei sind es gerade subjektive Erfahrungen der Missachtung, Diskriminierung und Chancenverweigerung im realen Leben, die dafür verantwortlich sind, dass das programmatisch deklarierte Ziel der modernen und aufgeklärten Gesellschaften – das Zusammenleben von Gleichen unter Gleichen in rechtsstaatlich organisierten Staaten und Gesellschaften – planmäßig verpasst wird.
Rosanvallon stellt deshalb die existenziellen Prüfungen von Menschen durch Missachtung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Unsicherheit im wirklichen Leben in den Mittelpunkt seines klugen Buches, denn diese Prüfungen bilden den Kern dessen, was Menschen Sorgen und Probleme bereitet, für die im Rahmen des Systems Lösungen unmöglich erscheinen, woraus bei Menschen „Politikverdrossenheit“ und Ohnmacht resultieren, die das Leiden in und an der Gesellschaft verstärken.
Wie dringend die Berücksichtigung der existenziellen Dimension des Erlebens in die soziologische Analyse ist, lässt sich an der Fruchtbarkeit des Begriffs der „moralischen Ökonomie“ in der historischen Untersuchung der Entstehung der britischen Arbeiterklasse in der monumentalen und bahnbrechen Studie von E. P. Thompson ermessen. Angesichts des Protests der Bewegung der Gelbwesten blieben die Erklärungen französischer Soziologen, gerade was die moralischen Motive der Akteure betrifft, in grotesken bis hilflosen Analogien mit den Brotrevolten im 18. Jahrhundert stecken.
Während die Sensibilität für Ungerechtigkeit gegenüber Menschen eher wächst und in Rechtsstaaten auch relativ leicht justiziabel ist, herrscht bei vielen gegenüber Ungleichheit Sprachlosigkeit – wohl auch, weil Justiziabilität, wenn überhaupt, nur schwierig zu erreichen ist.
Die unterschiedliche Sensibilität liegt vor allem darin begründet, dass Ungerechtigkeit, im Unterschied zu Ungleichheit, bei vielen spontan heftige Emotionen auszulösen in der Lage ist. Enorme Ungleichheit bei Einkommens- und Vermögensverhältnissen gilt dagegen als normal oder „systemrelevant“ und wird akzeptiert. Unsicherheit hält Rosanvallon für „die schlimmste Form der Unterdrückung“ und eines der größten Risiken in modernen Gesellschaften. Es handelt sich allerdings, wie andere Großrisiken, etwa Kriege, Bürgerkriege, Pandemien oder Klimakatastrophen, um ein nichtversicherbares Risiko. Ein Risiko übrigens, das auch von sozialstaatlich vorgesehenen Versicherungen gegen Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit nicht gedeckt wird.
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