Regisseurin über „An einem schönen Morgen“: „Leben und Film sind verzahnt“
Die Regisseurin Mia Hansen-Løve spricht über Abschied und authentisches Erzählen in ihrem Film „An einem schönen Morgen“. Schreiben schmerzt sie oft.
In ihrem Drama „An einem schönen Morgen“ schildert die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve den Alltag einer selbstbewussten Frau zwischen pflegebedürftigem Vater, beruflichen Herausforderungen und einer unverhofften neuen Liebe. Ein kluges, berührendes Porträt über eine komplizierte Lebensphase, inspiriert von eigenen Erfahrungen.
taz: Frau Hansen-Løve, in „An einem schönen Morgen“ verweben Sie sehr vielschichtig das Leben Sandras zwischen der Sorge um ihren dementen Vater Georg mit dem komplizierten Alltag als Patchworkfamilie, dem fordernden Beruf als Dolmetscherin und ihrer neu aufkeimenden Liebe zu einem alten Freund. Wie gelang die Balance dieser oft widersprüchlichen Emotionen?
Mia Hansen-Løve: Diese Gleichzeitigkeit von Gegensätzen war die größte Herausforderung. Dieser Moment, wenn man einen geliebten Menschen verliert und unerwartet einem großen Glück begegnet, das war mir passiert und das wollte ich in einem Film festhalten. Als Meditation über Verlust und Wiedergeburt. Gerade wenn man am Leben verzweifelt, bringt es oft unverhofft etwas, das es erträglicher macht. Sandra hätte sich vielleicht sowieso in Clément verliebt, doch der Verfall ihres Vaters lässt sie diese Leidenschaft noch intensiver spüren. Sie fühlt sich wieder lebendig, dabei aber auch schuldig. Um diese Ambivalenz ging es mir.
„An einem schönen Morgen“. Regie: Mia Hansen-Løve. Mit Léa Seydoux, Pascal Greggory u. a. Frankreich/Deutschland 2022, 113 Min.
Haben Sie diese Sandra bereits mit Léa Seydoux in Gedanken als Darstellerin geschrieben?
Das habe ich tatsächlich. Es half mir nicht nur, die Figur zum Leben zu erwecken, sondern gab mir überhaupt erst den Mut, die Geschichte zu erzählen. Es hätte ein sehr schmerzhafter Prozess werden können, dieses Drehbuch zu schreiben, sich diesen Emotionen auszusetzen. Ich wollte nicht einfach nur diese Erfahrung filmisch nachstellen, sondern ihr auf den Grund gehen, eine neue Erfahrung daraus machen. Dazu brauchte ich die Gabe einer Schauspielerin wie Léa.
Was macht das Schreiben für Sie so schmerzhaft?
Für mich gibt es zwei Arten von Drehbüchern. Jene, die ich schreiben will. Und die, die ich schreiben muss. Wenn ich etwas verfasse, das auf schmerzhaften Erinnerungen in meinem Leben basiert, in diesem Fall der Verfall meines Vaters, kehre ich damit zu diesem Moment und diesen Gefühlen zurück, durchlebe sie auf eine Art erneut. Manchmal wäre es sicher leichter, nicht zurückzublicken, einfach weiterzumachen. Aber das wollte ich nicht. Ich bin wieder in das Krankenhaus, in dem er untergebracht war, habe zum Teil in dem Zimmer gedreht, in dem er gelegen hatte. Mehrmals bin ich in Tränen ausgebrochen. Aber ich musste es tun, um dem nachzuspüren. Filmen ist für mich ein Suchen.
Hätten es dafür nicht etwas weniger persönlich belastete Drehorte sein können?
Das hatte einen ganz praktischen Grund. Es war Lockdown, viele Krankenhäuser und Pflegeheime ließen kaum Besuche zu, geschweige denn ein fremdes Filmteam. Die Tatsache, dass mein Vater dort gewohnt hatte, öffnete mir Türen, die sonst verschlossen geblieben wären. Und ich drehe lieber an Orten, die mir vertraut sind. Wenn ich einen Drehort noch nicht kenne, verbringe ich zunächst viel Zeit dort, um ihn mir zu eigen zu machen, ein Gefühl für ihn zu bekommen. Auch das war wegen Covid unmöglich. Zu den Krankenhäusern kehrte ich also zurück, weil ich mich dort auskannte: die Zimmer, die Flure und jede Ecke waren mir vertraut. Ich musste mich nicht erst einleben.
Sie sagten einmal, je präziser und spezifischer eine Geschichte erzählt sei, desto allgemeingültiger werde sie.
Davon bin ich heute mehr denn je überzeugt. Ich habe keine Angst davor, sehr spezifisch zu sein. Universalität ist nichts, was wir bewusst erstreben sollten. Ich versuche, so wahrhaftig und authentisch wie möglich zu sein. Denn je tiefer ich mich auf meine eigenen Erfahrungen einlasse und mich damit wirklich auseinandersetze, umso glaubhafter kann ich Geschichten erzählen, die berühren und etwas bedeuten.
Wie nah ist das Schicksal Georgs im Film an dem Ihres Vaters?
Dieser Teil des Films ist sehr nah an meinem Leben. Diese neurodegenerative Krankheit ist grausam, ganz egal, welchen Beruf jemand hat. Aber aus meinem subjektiven Blick hatte es eine besondere Tragik, dass mein Vater, der sein ganz Leben geistig arbeitete, es dem Denken und der Lektüre gewidmet hatte, so jung davon betroffen war. Vor allem in der Phase, als er noch klar genug ist, zu begreifen, was mit ihm passiert, wie ihm das Denken langsam entgleitet. Es war wie ein Ertrinken, vor dem ihn niemand retten konnte.
Die Regisseurin Mia Hansen-Løve wurde 1981 in Paris geboren. Sie studierte am Pariser Conservatoire d’art dramatique und arbeitete als Autorin für die Zeitschrift Cahiers du cinéma. Ihr erster Spielfilm, „Tout est pardonné“, feierte 2007 in Cannes Premiere. 2016 gewann sie mit „Alles was kommt“ den Silbernen Bären für die beste Regie bei der Berlinale. Im vergangenen Jahr lief ihr Film „Bergman Island“ in Cannes im Wettbewerb.
Sie zeigen diesen Verfall ohne falsche Scham. Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen, ändert sich seit Michael Hanekes „Liebe“ langsam. Wie sehr hat sich unser Umgang mit Demenz und Sterben wirklich verändert?
Zumindest das Kino scheint nun eher bereit zu sein, sich diesem Thema zu stellen. Und es gibt ein Publikum, das nicht nur Zerstreuung sucht, sondern sich bewusst mit dem Altwerden als Teil des Lebens auseinandersetzt. Aber ich habe meinen Film nicht als gesellschaftspolitisches Statement gemacht, sondern aus einem persönlichen, inneren Bedürfnis.
Sandra findet am Ende in den handschriftlichen Notizen ihres Vaters vier Worte auf Deutsch: „An einem schönen Morgen“, die sie für den Titel seiner nie geschriebenen Memoiren hält und die auch der Titel Ihres Films sind. Wie entstand diese Idee?
Mein Vater verfasste zwar einige Artikel und Essays, aber er hätte ein richtiger Autor sein können, Bücher schreiben, auch über seine Familiengeschichte. Wegen der Umstände war ihm dieser Traum verwehrt, und für mich fühlt es sich an, als würde ich vollenden, wozu er nicht in der Lage war. Ohne seine Frustration, sich nicht verwirklicht zu haben, hätte ich nicht diese Entschlossenheit, Filme zu machen. Das ist ein starkes Band zwischen uns. Darauf spiele ich mit diesen Worten an. Ich habe sie erfunden, alle anderen Zitate im Film, die Pascal Greggory am Ende aus den Notizbüchern vorliest, stammen von meinem Vater.
Im Film spielen auch die Bücher von Annemarie Schwarzenbach und Klaus Mann eine Rolle. Weil sie Ihnen wichtig sind oder weil sie Ihrem Vater am Herzen lagen?
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „An einem schönen Morgen“
Auch die Bücher im Film sind die meines Vaters. Ich nutzte den Film als Vorwand, sie aus dem Keller zu holen, wo sie eingelagert waren, und ans Licht zu holen. Mich irritiert es, wenn ich auf der Leinwand Fake-Bibliotheken mit Buchattrappen sehe. Als Lehrertochter fällt mir das sofort auf. Meine Figuren sollen mit echten Büchern leben. Und was Annemarie Schwarzenbach angeht: Sie ist mir eine Herzensangelegenheit.
Inwiefern?
Ich beende gerade ein erstes Drehbuch für eine Miniserie über ihr Leben. Sie war Schriftstellerin, Journalistin und Fotografin, mit Erika und Klaus Mann befreundet, reiste um die Welt, immer auf der Suche. Es gibt dieses schöne deutsche Wort „Sehnsucht“, die hatte sie und die kenne ich auch aus meiner Familiengeschichte. Auf den Spuren ihrer europäischen Melancholie erkunde ich meine eigene.
Wenn Filmen für Sie Suchen ist, was haben Sie diesmal dabei gefunden?
Schwer zu sagen, weil Leben und Film bei mir so verzahnt sind. Ich weiß, wie das Leben meine Filme beeinflusst, aber umgekehrt? „An einem schönen Morgen“ half mir sicher, den Tod meines Vaters zu verarbeiten. Es war wie ein langes Abschiednehmen. Ich habe dadurch Trost gefunden. Für mich und hoffentlich für andere. Und ich habe gelernt, mich und meine Erfahrungen besser zu verstehen. Den Film zu machen, hatte etwas Kathartisches. Aber sobald er fertig ist, muss ich ihn ziehen lassen, er gehört mir nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!