Neuer EU-Roman von Robert Menasse: Jagd nach dem goldenen Helm
Robert Menasse bleibt sich thematisch treu. Mit „Die Erweiterung“ schreibt er in cineastischer Prosa einen Roman über Politik der Europäischen Union.
Im Wiener Kunsthistorischen Museum gehen die meisten Leute achtlos an dem goldenen Helm vorbei, dabei sieht das mit allerlei Metallverzierungen beschlagene Ding ziemlich skurril aus. Auf dem Scheitel ist ein Ziegenkopf aus vergoldeter Bronze montiert, was den Helm wie eine Requisite aus „Game of Thrones“ aussehen lässt. Die gehörnte Kopfbedeckung wird aber dem albanischen Volkshelden Skanderbeg zugeschrieben, auch wenn jener Fürst, der im 15. Jahrhundert gegen die Osmanen kämpfte, den Helm vermutlich weder getragen noch besessen hat.
Die Hörner auf dem Helm, die dem zeitgenössischen Betrachter merkwürdig vorkommen können, interpretieren Zeithistoriker als Symbol für die göttliche Macht des angeblichen Besitzers. Der Nachruhm des Feldherrn immerhin hat nachweislich einige Spuren hinterlassen, etwa in der Vivaldi-Oper „Skanderbeg“. In London steht eine prunkvolle Büste des adligen Kriegers, und in Tirana ist ihm mit einem großen Reiterdenkmal der Hauptplatz der Stadt gewidmet.
Eher unbekannt ist, dass sich eine besonders blutrünstige SS-Division nach Skanderbeg benannt hat. Auch dieses dunkle Kapitel der albanischen Heldenverehrung wird in Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“ erwähnt, zeigt es doch, dass die europäische Geschichte immer schon widersprüchlich war.
Wie schon in seinem vorangegangenen Roman „Die Hauptstadt“ wirbelt Menasse auch im neuen Werk mit historischen und fiktiven Anekdoten herum, sodass es naheliegt, die eine oder andere Skurrilität durch eine Kurzrecherche im Internet zu überprüfen. Aber schon bald hat der Text ein solches Eigenleben entwickelt, dass die Historie seltsam fiktiv und das Erfundene als Realität erscheint.
Debatten ums vorangegangene Buch
Dieses Verfahren lässt sich auch als literarische Antwort auf die Debatten rund ums vorangegangene Buch lesen. Der Historiker Heinrich August Winkler hatte Menasse vorgeworfen, dass der Autor nicht nur in seinem „Hauptstadt“-Roman, sondern auch in politischen Schriften fiktive Zitate von Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, verwendet habe.
Robert Menasse: „Die Erweiterung“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 652 Seiten, 28 Euro
Nach heftigen Diskussionen im Feuilleton entschuldigte sich Menasse für seine Vermischung von historischen Fakten und literarischen Ausformulierungen auch in Reden und Essays – die eben nicht das Privileg der Fiktion in Anspruch nehmen können.
Menasses neuer Roman wird vermutlich wieder für Diskussionen sorgen, aber aus anderen Gründen, geht es in „Die Erweiterung“ doch um den aktuellen Beitrittswunsch Albaniens in die Europäische Union. Der amtierende (aber gleichwohl fiktive!) Premier des beitrittswilligen Landes sucht jedenfalls nach einer Möglichkeit, sowohl die eigene Wählerschaft als auch jene Länder zu beeindrucken, die der Aufnahme Albaniens in die EU eher skeptisch gegenüberstehen. Und was macht der geschichtsvergessene Populist? Er fordert die Herausgabe des in Österreich liegenden Nationalheiligtums!
Windige Figur mit nationalistischen Visionen
Diesen Coup hat sich Fate Vasa ausgedacht, der einst als Dichter reüssierte und nun auf politischem Terrain poetisiert – sprich: er fungiert als Berater im albanischen Kabinett, eine windige Figur mit nationalistischen Visionen: „Wer sich den Helm Skanderbegs aufsetzt, was einer osteuropäisch-postmodernen Variante der Selbstkrönung Napoleons gleichkäme, würde dadurch zum Führer aller Albaner, der Herrscher über die größte Volksgruppe des Balkans, der ethnischen Albaner im Kosovo, in Nordmazedonien, in Montenegro und Serbien, aber auch der nicht zu unterschätzenden Zahl der Albaner in Griechenland, und der großen albanischen Gemeinden in Süditalien, Deutschland und der Türkei.“
Dass der Helm in Wien allerdings eher als „Exempel für historische Legendenbildung und nicht als koloniale Beute“ ausgestellt ist, interessiert in Tirana weder den Regierungschef noch den Oppositionsführer, der ebenfalls überlegt, wie er an das gehörnte Ding herankommt. So beginnt eine aberwitzige „Jagd nach dem goldenen Helm“.
Das Objekt der großalbanischen Begierde wird tatsächlich unter dubiosen Umständen gestohlen. Die Polizei in Wien ist vollkommen ratlos, anders als der albanische Ministerpräsident, der weiterhin von seiner Quasikrönung träumt und einem versierten Schmied den Auftrag gibt, passend zum eigenen Dickschädel eine leicht vergrößerte Kopie des Helms anzufertigen.
Dass auch die originalgetreue Fälschung bald verschwindet, ist der Mafia zu verdanken, hindert die Regierungsclique in Tirana wiederum nicht daran, den Skanderbeg-Plan weiter zu verfolgen. Das groteske Hin und Her mit den Helmen, das Spiel mit den gefälschten Projektionsflächen, die zur Realpolitik werden, ist eine bitterkomische und äußerst treffende Allegorie auf den Nationalismus in Europa.
Vielzahl von Personen
Die Handlung des Romans ist allerdings nicht einseitig angelegt, denn Menasse erzählt von den komplizierten Erweiterungsplänen der EU auch aus der Innensicht der Bürokratie, und zwar über eine Vielzahl von Personen und Paarkonstellationen. Dass der Autor nicht nur an der satirischen Eskalationsschraube zu drehen, sondern seine Romankonstruktion durchaus emotional zu erden weiß, zeigt sich an den polnischen Jugendfreunden Adam und Mateusz. Im Untergrundkampf der Solidarność waren die beiden noch vereint, haben sich Blutsbrüderschaft geschworen. Doch mit dem Ende des Warschauer Pakts gehen sie getrennte Wege.
Adam macht, kaum ist Polen der EU beigetreten, Karriere in der Europäischen Kommission. Er treibt die Erweiterungspläne der Gemeinschaft voran, während Mateusz zum polnischen Ministerpräsidenten aufsteigt und nicht nur die Aufnahme Albaniens torpediert, sondern auch die Freiheitsrechte im eigenen Land einschränkt.
Es gehört zu den im Roman gut herausgearbeiteten Gegensätzen aktueller EU-Politik, dass die vielbeschworenen europäischen Werte in jenen Staaten, die der EU beitreten wollen, deutlich engagierter umgesetzt werden als in einigen Mitgliedsländern, die lediglich um ihre finanziellen Pfründen fürchten und sich zu autoritären Systemen zurückentwickeln.
Jenseits der politischen Erzählebene überzeugt Menasses Roman mit einer Vielzahl von transnationalen Liebesgeschichten, als würde Europa ohnehin nur noch durch emotionale Verbindungslinien zusammengehalten werden: Der österreichische EU-Beamte Karl verguckt sich in die albanische Justizangestellte Baia, der Wiener Polizist Franz flirtet mit seiner Putzfrau Bessa, die aus Nord-Mazedonien kommt. Ismail, der melancholische Pressesprecher des albanischen Ministerpräsidenten, geht mit der nonbinären Radiojournalistin Ylbere auf Wanderschaft im Grenzgebiet zum Kosovo.
Nicht alle Sehnsüchte erfüllen sich, einige der Liebenden stürzen auf schlimme Weise ab. Die Gefühle der manchmal auch innerlich verstellten Figuren wirken durchweg nachvollziehbar, weil der allwissende Erzähler nie auf seine Charaktere herabschaut, sondern die vertrackten Stimmungslagen in eindrücklichen Szenen auflöst – etwa wenn Ismail und Ylbere eine kühle Nacht nach der anderen gemeinsam verbringen und sich bei aller Nähe doch so fern bleiben.
Das Schlusskapitel dieses Romans, der trotz der beachtlichen Länge von 650 Seiten ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet, ist ein Totentanz auf hoher See. Die albanische Regierung hat die europäische Politprominenz zu einer Reise auf ein Kreuzfahrtschiff eingeladen, das gerade mit dem missverständlichen Namen „SS Skanderbeg“ vom Stapel gelassen wurde. Die echtfalschen Helme des Heerführers sind auch an Bord, Passagiere berichten sogar von einer lebendigen Ziege.
Medizinische Notfälle und ein um sich greifendes Virus
Doch die Seereise, die zu einer neuen Einheit führen soll, entwickelt sich zu einem Desaster. Plötzlich werden medizinische Notfälle gemeldet, ein Virus greift um sich, die Menschen sterben, die Kühlräume sind schon bald überfüllt. Das Schiff mit den moribunden Staatschefs darf nirgendwo mehr anlanden und irrt zeitweilig kapitänslos übers Meer.
Dass die Rumpfbesatzung sich entschließt, in dieser Situation Flüchtlinge in Seenot aufzunehmen, erinnert zwar noch an die besagten europäischen Werte, könnte aber angesichts des gefährlichen Erregers auf dem Schiff auch das endgültige Todesurteil für die Geretteten sein.
Ein düsteres Ende für ein ansonsten absurd-amüsantes Buch, mit dem Robert Menasse seinem literarischen und politischen Projekt treu geblieben ist, Geschichte und Geschichten über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Europas zu erzählen.
Der schnelle Wechsel der Schauplätze, die rasanten und gerade in der Übertreibung so realistischen Szenen, der spannende Plot, die historische Dimension der gegenwärtigen Machtgier, ein verrücktes Ziergenhelm-Symbol und nicht zuletzt die zahlreichen im besten Sinne einprägsamen Charaktere zeigen eine nahezu cineastische Qualität dieser Prosa. Fördergremien Europas, hört die Signale! „Die Erweiterung“ muss verfilmt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus