: Ekeln ist gesund
Das Immunsystem reagiert offenbar bereits auf Bilder und Videos von Fäkalien, Auswurf und Niesen. Neuroendokrinolog:innen der Hamburger Uni haben diesen Effekt untersucht
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Von Teresa Wolny.
Fäkalien. Erbrochenes. Maden. Alles Dinge, vor denen wir in der Regel instinktiv zurückschrecken: Wir empfinden Ekel. Auch wenn eine Person neben uns in der U-Bahn hustet und schnieft, gehen wir auf Distanz. In den letzten drei Jahren dürfte sich der Fluchtreflex besonders in solchen Situationen noch verstärkt haben.
Wissenschaftler:innen gehen noch einen Schritt weiter: Sie vermuten, dass wir bei Ekel nicht nur äußerlich zurückweichen, sondern dass durch ihn auch im Körper wichtige Prozesse stattfinden, konkret: dass unsere Immunabwehr hochfährt. Eine Studie vom Fachbereich Biologie der Universität Hamburg hat dies nun genauer untersucht. Die Forschenden rund um Erstautorin Judith Keller, Doktorandin in der Arbeitsgruppe Neuroendokrinologie, zeigten den Versuchspersonen dabei Bilder und Videos von unterschiedlich ekligen Situation. Im Vordergrund stand dabei der Ekel gegenüber ansteckenden Krankheiten.
Prof. Dr. Esther Diekhof, Leiterin der Abteilung Neuroendokrinologie im Fachbereich Biologie der Universität Hamburg
Eine Gruppe von Proband:innen musste sich Szenen von hustenden und in die Kamera niesenden Menschen anschauen. Die zweite Gruppe bekam kranke Menschen zu sehen, die unter Symptomen wie Fieber litten. Neben der Kontrollgruppe, die nicht-eklige Landschaftsvideos schaute, gab es eine dritte Gruppe, der Videos und Bilder von verrottetem Essen und Tierkadavern gezeigt wurde. Vor und nach dem Anschauen wurden jeweils Speichelproben der Proband:innen genommen und anschließend im Labor auf das Immunglobulin S-IgA untersucht.
S-IgA steht in den Schleimhäuten an vorderster Front und wird gebildet, um eindringende Krankheitserreger zu bekämpfen. Und siehe da: Tatsächlich konnten die Forschenden bei allen drei Gruppen, die sich eins der Ekelvideos angeschaut hatten, im Nachhinein eine erhöhte Konzentration von S-IgA vorweisen: Um durchschnittlich 87 Prozent etwa war die Menge des Immunglobulins angewachsen bei jenen, die sich niesende und rotzende Menschen anschauen mussten. Und: Der Zuwachs war stärker, wenn die Proband*innen die auf dem Video dargestellte Situation als besonders ansteckend eingeschätzt hatten.
Menschen ekeln sich in unterschiedlicher Intensität – Frauen zum Beispiel mehr als Männer – und das auch noch vor unterschiedlichen Sachen. Die Abneigung vor bestimmten Dingen wie fremden Körperflüssigkeiten und -ausscheidungen, Maden oder verwesten Tierkadavern ist aber universell.
Lange Zeit war Ekel ein eher spärlich erforschtes Feld. Siegmund Freud war der Meinung, dass Ekel an das sexuelle Lustgefühl gekoppelt sei, ein Trieb, der während der Kindheit durch Erziehung verdrängt würde. Für Charles Darwin hingegen war Ekel ein angeborener Instinkt. Der Naturforscher war der erste, der sich mit der typischen Ekel-Mimik befasste: Darwin vermutete, dass der Gesichtsausdruck andere vor Ungenießbarem warnen sollte.
Als „fabelhaftes Fenster in die menschliche Spezies“ beschrieb die mittlerweile verstorbene britische Verhaltens- und Ekel-Forscherin Valerie Curtis Ekel in einem Vortrag 2013. Sie sah im Ekel weniger eine Emotion als vielmehr ein adaptives System, das zeige, warum Menschen sich auf eine bestimmte Art verhalten. Eigentlich, so Curtis, seien andere Menschen eine der größten Gefahren für unseren Körper. Mit ihren Körperflüssigkeiten wollen wir deshalb so wenig wie möglich in Kontakt kommen. Eitrige Wunden, und Fäkalien, aber auch Rotz oder Spucke eint, dass sie Erreger enthalten können, die gefährliche Krankheiten verursachen.
Ekel ist damit ein wichtiger Teil unseres Immunsystems – für gewöhnlich wird er aber dem sogenannten „Behavioural Immune System“ (BIS), unserem Verhaltensimmunsystems also, zugeschrieben. Das BIS ist ein psychologisches Konzept, das 2007 von Wissenschaftler:innen als zweite Form des Immunsystems neben dem klassischen physiologischen Immunsystem (PIS) entwickelt wurde.
Einmal befallen, versuche ein Organismus mithilfe des PIS alles, um Keime zu inaktivieren und wieder gesund zu werden, erklärt Esther Diekhof, Professorin für Neuroendokrinologie an der Universität Hamburg und Senior-Autorin der Studie. „Aber das braucht sehr viel Energie.“ Das BIS besteht aus Verhaltensmechanismen, die dazu führen, dass Krankheitserreger gar nicht erst in unseren Körper gelangen.
„Die aktuelle Covid-19-Pandemie zeigt, dass besonders soziale Vermeidung sehr effektiv darin sein kann, das Ansteckungsrisiko zu reduzieren“, schreiben die Forschenden in der Studie. Ekel hilft. Dass er auch das körperliche Immunsystem steuern könnte, war so klar bisher nicht belegt worden. Mit der Hamburger Studie wollten die Forschenden diese Lücke schließen und den möglichen Zusammenhang zwischen beiden Immunsystemen besser verstehen.
Hinweise darauf, dass PIS und BIS interagieren, gab es schon in der Vergangenheit: Erste Erkenntnisse darüber, dass bestimmte Immunparameter bei Ekel anstiegen. Aber diese Ergebnisse konnten in Folgestudien nicht wiederholt werden. Nie zeigte sich der Zusammenhang so deutlich wie in der aktuellen Speicheluntersuchung.
Die Wissenschaftler*innen haben dafür eine interessante weiterführende Erklärung. „Wir gehen davon aus, dass die Personen momentan alle hochgradig sensitiv auf bestimmte krankheitsbezogene Reize reagieren“, erklärt Esther Diekhof. Die Einstellung gegenüber offensichtlich kranken und ansteckenden Menschen etwa am Arbeitsplatz habe sich in den letzten Jahren stark verändert.
Diese aktuell gestiegene Aufmerksamkeit gegenüber Infektionskrankheiten könnte einer der Gründe sein, warum prä-pandemische Studien nicht so signifikante Ergebnisse vorweisen konnten wie die aktuelle. Das würde bedeuten: Auch sozial angelernter beziehungsweise verstärkter Ekel könnte Auswirkungen auf das physiologische Immunsystem haben.
In weiterführenden Studien möchten die Forschenden aus Hamburg nun unter anderem untersuchen, ob die Ausschüttung von SIgA auch konditioniert werden kann und welche Rolle die Mundflora dabei spielt. „Es wäre auch sehr interessant, die Studie in drei oder vier Jahren zu wiederholen“, sagt Diekhof.
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