Das Neue ist da, aber noch nicht normal

Der Soziologe Stephan Lessenich nimmt in „Nicht mehr normal“ die gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität unter die Lupe. Norm und Normalität, so lernt man, fallen dabei oft auseinander

Demonstranten, Fußgänger und Einkaufende mischen sich auf dem Alexanderplatz

So viel Ordnung war früher nicht: Schlange stehen mit Corona-Abstandsmarkierungen Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Von Ulrike Winkelmann

Viele zuckten zusammen, als die AfD im Bundestagswahlkampf 2021 ihre zentrale Werbeparole verkündete. Denn sie war „leider gut“, wie zum Beispiel Stefan Reinecke in der taz befand. „Deutschland. Aber normal“, hieß das Motto, das im Fernseh-Spot gesetzt wurde, mit dem natürlich ­gegen alles mobilisiert wurde, wogegen die AfD halt so ist – aber auf der Folie dessen, was immer noch alle quält, ob rechtsradikal oder nicht: die Zumutungen und Unnormalitäten der Coronapandemie. Unter denen, die der AfD zugestanden, dass sie hier einen Punkt klug gesetzt hatte, war auch Stephan Lessenich.

Der Soziologe Lessenich, seit vielen Jahren auf renommierten akademischen Posten, wurde im vergangenen Jahr zum Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main berufen – genau, des Instituts, das mit der „Frankfurter Schule“ Generationen von kritischen GesellschaftsanalystInnen geprägt hat.

In seiner ersten Veröffentlichung seit dem Jobwechsel nimmt Lessenich sich den Begriff der Normalität vor, wie er einerseits von AfD und Konsorten dafür missbraucht wird, Ängste und damit Ressentiments zu schüren – und andererseits doch auch zur gesellschaftlichen Selbstverständigung gebraucht wird. „Nicht mehr normal“, das sei das Selbstgefühl der deutschen Gesellschaft, weshalb sie dem Titel gemäß „am Rande des Nervenzusammenbruchs“ siedele.

Es war dabei laut Lessenich das Coronavirus, welches den Begriff eines normalen Alltags so erschütterte, dass in den Klüften des allgemeinen Verständnisses dessen, was das Leben der meisten Leute zusammenhält, gleich noch die Widersprüche der sonstigen Großereignisse dieser Zeit wiederauftauchten, die eigentlich gütlich weggebügelt worden waren, siehe Finanz- und Migrationskrise. Russlands Krieg in der Ukraine hat Lessenich miterfasst, aber erkennbar war seine These schon vorher durchformuliert.

Stephan Lessenich: „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Hanser,

München 2022,

158 Seiten,

23 Euro

„Im Kern trügt das Gefühl ja nicht“, schreibt Lessenich. „Im Kern spüren es auch all jene, die man keineswegs zum harten Kern der Coronaleugner, Klimaskeptiker oder Fremdenfeinde zählen würde: Die alte Normalität hat Risse bekommen, sie ist brüchig geworden. An immer mehr Fronten verschieben sich die Grenzen des Sag- und Machbaren, immer mehr Gruppen meinen öffentlich mitreden zu müssen und politisch mitgestalten zu können.“ Das Neue sei schon da, aber eben noch nicht normal – „was Tür und Tor öffnet für unkalkulierbare gesellschaftliche Reak­tionen“, darunter die zwischen Hysterie und Gewaltlust changierenden Angriffe etwa auf den Corona-Experten Christian Drosten.

Sorgfältig arbeitet Lessenich heraus, dass Norm und Normalität durchaus auseinanderfallen – illustriert am schönen Beispiel des Normarbeitsverhältnisses, abgekürzt NAV. Das ist jene tarifgebundene, unbefristete, sozialversicherte Vollzeitarbeit, die in der alten Bundesrepublik vor allem von Männern verrichtet wurde. An dieser Norm richtete sich Jahrzehnte lang ein Großteil der Politik aus. Normalität war dagegen, dass der größere Teil der Bevölkerung, vor allem die meisten Frauen und viele MigrantInnen, ganz anders arbeiteten, „atypisch“ halt. Und Normalität war außerdem, dass alle gemeinsam diese Aufteilung schon in Ordnung fanden – was wiederum die typische Konstruktion von Normalität, von sozialer Akzeptanz ist.

Diese stetige, bisweilen ruppige, insgesamt aber recht geschmeidige Konstruktion von bundesdeutscher Normalität geriet nun laut Lessenich spätestens 2008 mit der Finanzkrise ins Stottern. Diese sei mitsamt ihren Ursachen nie gelöst, sondern ihre nächste Runde bloß aufgeschoben worden – Lessenich folgt hier seinem zuletzt ziemlich abgedrifteten Soziologen-Kollegen Wolfgang Streeck mit dessen 2013 noch gut durchargumentierter These von der „gekauften Zeit“. Wobei Lessenich darauf hinweist, dass nicht nur die Hochvermögenden und SpekulantInnen auch aus der Bewältigung der Finanzkrise noch enormen Profit schlugen. Sondern, dass es auch die „besitzenden Mittelschichten“ sind, nämlich seine Leserschaft und alle anderen, die ebenfalls eine gewinnbringende Verwertung ihres Kapitalbesitzes anstreben, die als „Täteropfer“ die krisenhafte Dynamik verstärken.

Analog zum Bild der gekauften Zeit beschreibt Lessenich die Migrationspolitik nach dem eindrücklichen Flüchtlingsjahr 2015, als die Republik in kürzester Zeit hunderttausende Menschen aufnahm, als „gekauften Raum“. Denn was die Merkelregierung teils im Alleingang, teils via EU-Institutionen unternahm, war ja ein schlichtes Draußenhalten: Mit viel Geld wurde die Türkei überzeugt, ein besseres Aufnahmeland insbesondere für Syrerinnen und Syrer zu sein, und Frontex wurde ausgerüstet, die Migrationsfrage noch im Mittelmeer zu klären oder in die libysche Wüste zu verschieben.

„Nicht mehr normal“, das sei das Selbstgefühl der deutschen Gesellschaft, weshalb sie dem Titel gemäß am Rande des ­­Ner-

venzusammen­bruchs siedele

Ein weiteres Kapitel des mehr oder weniger heimlichen Einverständnisses mit einer Politik, die auf existenzielle Probleme nur mit Verschiebung reagiert, ist natürlich die Klimakrise. So klar es ist, dass eine Ökonomie unter Wachstumszwang unsere Lebensgrundlagen vernichtet, so deutlich ist es doch, dass es auch Individuen unendlich schwer fällt zu schrumpfen, weniger zu wollen. Die Ressourcen, die zu vernutzende Natur würden dabei nicht mehr anderswo geklaut, schreibt Lessenich. Der Versuch etwa, Wasserstoff im großen Stil in Nordafrika für Europa zu gewinnen, sei immerhin ein Fortschritt hin zur „gekauften Natur“.

Der Ukrainekrieg schließlich wirft die Frage auf, was es dieses Mal zu kaufen gibt, damit halbwegs Ruhe ist. Hier hat Lessenich noch kein Stichwort parat. Der pandemische Ausnahmezustand, der uns die Widersprüche des Kapitalismus gleichzeitig hat spüren und doch auch verdrängen lassen – Hauptsache, das Kind ist gesund, lasst mich grad mal mit allem anderen in Ruhe – ließ die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität vielleicht noch zu. Danach sieht es nun mit dem Krieg in Osteuropa aktuell nicht mehr aus.

Der „zutiefst irrationalen Rationalität“ der Gesellschaft (kursiv im Original) ist mit Lessenich nur die Kraft der Erkenntnis entgegenzusetzen. „Wir sind aufgefordert, die Macht der Illusion zu brechen – der Illusion, dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise durchkommen könnten.“ Wer darüber hinaus bei Lessenich Lösungen sucht, Auswege, konstruktive Ansätze, Politikvorschläge gar, wird in seinem Buch enttäuscht. Darin steht Lessenich in echter Tradition der Kritischen Theorie. Was immerhin auch eine kleine Form der Normalität ist.