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Ausgehen und rumstehenvon Robert MießnerDas Zittern und Grummeln des Jazz in der Untergrundbahn

Ellenbogen, Schiffbruch und Blaulicht haben viele Adressen in Berlin. Eine von ihnen ist der Alexanderplatz. Am Wochenende kam am Berolinahaus vorbei. In den frühen Dreißigerjahren wurde dort Swing getanzt. Mit den Nazis musste aus dem Tanzcafé „Braun“ das „Café Berolina“ werden. Die jüdischen Besitzer wurden enteignet. Als die Herrenmenschen verjagt waren, zog die sowjetische Kommandantur ein, in den Fünfzigerjahren die Berliner Verwaltung. Der erste Schnellimbiss der DDR eröffnete im Berolinahaus.

Vor der Erdgeschossfront bemerkte ich zwei Frauen. Die eine hielt eine überdimensionierte hölzerne Sanduhr in die Höhe; die andere kündete vom Ende der Zeiten oder vom Beginn einer gänzlich neuen, ich weiß es nicht genau. Ein Publikum wollte sich für die beiden kaum finden. Habenichtse übten sich daneben in lautstarkem Konkurrenzkampf, die Ordnungsmacht in Geduld. Einige Tage zuvor war ein U-Bahntunnel unter dem Alexanderplatz um mehrere Zentimeter abgesackt. Nebenan soll ein Hundertmeter-Hochhaus entstehen. „Die neuen Tempel haben schon Risse“, heißt es bei den Einstürzenden Neubauten. Sie meinten den Potsdamer Platz.

Dort kamen im Oktober 1918 der flämische Dichter Paul van Ostaijen und seine Freundin Emma Clement am Bahnhof an. In Berlin sollten van Ostaijen und Clement die Revolution, den Expressionismus, den Dadaismus und die Bohème treffen. Ostaijens Hoffnungen wurden enttäuscht, drei Jahre später verließ er Berlin wieder. Dafür hat er jetzt eine Ausstellung im Ephraim-Palais, zwischen Alex und Potsdamer Platz. Der lautmalerische Titel „Boem!“ assoziiert einen Paukenschlag, die Ausstellung. die noch bis Jahresende läuft, bettet van Ostaijen in die revolutionäre Kunst seiner Zeit ein. Da sind die Originalmanuskripte der Gedichtsammlungen „Bezette Stad“ (Besetzte Stadt) und „De Feesten van Angst en Pijn“ (Die Feste von Angst und Pein) mit ihrer rhythmischen Typographie. Und dann ist da das Stummfilm-Manuskript „De Bankroet Jazz“ (Der Pleitejazz). Van Ostaijen war von dem neuen Sound begeistert und hatte ein Jazzkonzert in der Varieté-Bühne Scala in Schöneberg besucht.

Im „Pleitejazz“ erscheint eine „Karte von West- und Mitteleuropa. Berlin, Brüssel, Paris. Man sieht drei Jazzgruppen sich über die Landkarte aufeinanderzubewegen. „Der Jazz versöhnt die Völker.“ Die Erde bebt, der Berliner Dom stürzt ein: „Zittern und Grummeln des Jazz in der Untergrundbahn.“

Improvisierte Musik gab es am Sonnabend im Kühlspot, einem malerischen Seitenflügelclub hinter der Weißenseer Spitze. Dafür waren insgesamt fünf Streichbögen bei drei Musikern zu erleben: Matthias Bauer am Kontrabass, Michael Vorfeld an der Standperkussion und Kriton Beyer an der Elektronik und am Daxophon. Das selten gespielte Instrument ist eine Entwicklung des Wuppertaler Musikers Hans Reichel. Ein Holzbrettchen in verschiedenen Ausführungen, sie machen auch optisch einiges her, wird mit einem Cello- oder Bassbogen angestrichen und ist mit einem Resonanzkörper verbunden. Bei Kriton Beyer schnattert das Holz wie eine Gänseschar oder pfeift wie ein Teekessel im Feedbackmodus. Und Vorfeld spielt seine Perkussionsinstrumente, schon mal mit dem Bogen oder einer Bürste. Bauer lässt den wuchtigen Bass behutsam wie behend klingen.

Es ist das erste Konzert des Trios. In seinem Zusammenspiel entsteht eine Musik, die zum adäquaten Soundtrack des industriellen Backsteinambientes ihres Ortes wird. Und noch eine guteNachricht für alle, die es verpasst haben: Das Konzert wurde aufgezeichnet.

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