Folterspuren und Gräber: die Toten von Isjum

Nach dem Fund Hunderter Gräber in Isjum im Gebiet Charkiw werfen Ermittler den russischen Besatzern Kriegsverbrechen vor. Ein Einwohner berichtet von Folter

Holzkreuze im Wald: Ukrainische Ermittler exhumieren die Toten im Wald von Isjum Foto: Fo­to:­ Evgeniy Maloletka/ap

Aus Isjum Juri Larin

„Die meisten Menschen aus meinem Haus, ehemalige Nachbarn, liegen hier“, sagt der 33-jährige Serhij Schtanko, der am Freitag letzter Woche im Wald bei Isjum vor den endlosen Gräberreihen steht. Er lebte in einem Fünfgeschosser in der Kleinstadt Isjum, die im Zuge der ukrainischen Offensive vor Kurzem von der monatelangen russischen Besatzung befreit worden ist.

Dieses Wohnhaus, so berichtet Schtanko, sei am 9. März morgens um 9 Uhr von russischen Kampfflugzeugen beim Versuch, die Stadt zu stürmen, zerstört worden. Schtanko erinnert sich daran, dass die meisten seiner Nachbarn damals in einem Keller saßen, der von einem Geschoss getroffen wurde. „Die Menschen wurden im Keller verschüttet. Nach offiziellen Angaben hat man jetzt 46 von ihnen identifiziert, sieben noch nicht. Wie viele Menschen sich noch in dem Keller befinden, ist nicht bekannt, weil man erst einen Monat später damit begonnen hatte, die Leichen dort zu bergen“, sagt Schtanko.

Er selber habe wie durch ein Wunder überlebt, sagt er. Während des Beschusses sei er bei seiner kranken Mutter in ihrer Erdgeschosswohnung geblieben. „Nach dem Einschlag stürzte ich in den Keller, zusammen mit Ziegelsteinen und einem Schrank. Ich konnte mich befreien und meine bettlägerige Mutter herausziehen. Die, die sich unter dem mittleren Teil des Hauses befunden hatten, starben. Sechs Menschen, die am Rand des Kellers gesessen hatten, überlebten“, berichtet Schtanko.

Ein anderer Einwohner von Isjum, der nur seinen Vornamen Maxim angibt, überlebte ebenfalls. Der 50-Jährige wurde von Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte aus der Haft gerettet, als sie die Stadt befreiten.

Maxim sagt, er sei am 3. September von Russen wegen des Fundes gewöhnlicher Landkarten der Gebiete Charkiw und Donezk in seiner Wohnung beschuldigt worden, als Spion für die Ukraine tätig zu sein. Deshalb sei er in den Keller einer ehemaligen Polizeistation gebracht worden.

Maxim berichtet: „Ich hatte die Gartenpforte geöffnet, da schrien sie gleich: ‚An die Wand! Hände an die Wand!‘ Ich wurde gefesselt und abgeführt. Sie brachten mich in die ehemalige Polizeiwache. Dort waren Zellen. Im Erdgeschoss saßen Kriminelle, aber alle, sagen wir mal, Politischen oder Menschen, die sie mit dem Krieg in Verbindung gebracht wurden, waren im Keller, also quasi unter den Kriminellen eingesperrt“, erinnert er sich.

Er berichtet: „Es gab diese Folter mit Strom. Sie fesseln dich mit Handschellen, hier sieht man noch die Spuren davon. Dann setzen sie dich auf einen Stuhl und legen Elektroden an. Es gibt dort so ein spezielles Gerät, das ‚Tapik‘ heißt. Bei jedem Stromstoß beginnst du zu zittern. Ich war auch an den Beinen gefesselt. Ich fiel hin und hatte überall Schürfwunden. Das ist ein ziemlich heftiger Schmerz. Nach einigen Minuten verliert man das Bewusstsein. Ich glaube, man hält das etwa 15 bis 20 Minuten durch. Hinterher habe ich gefragt, wie lange ich bewusstlos gewesen war. Sie sagten, etwa 40 Minuten.“

Maxim zeigt dem Reporter die Schrammen und Narben an seinen Handgelenken und Füßen. Er gibt an, nicht exakt zu wissen, wo genau er gefoltert wurde, weil er immer mit einem Sack über dem Kopf zu den „Verhören“ gebracht worden sei. Diese hätten in dunklen Räumen stattgefunden. Die „Ermittler“ hätten Stirnlampen getragen, sodass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte.

Vergleich mit Nazis Nach den Leichenfunde in Isjum hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski versprochen, die Identität der Getöteten zu klären. Selenski sagte, dass inzwischen mehr als zehn Folterkammern in verschiedenen Städten des befreiten Gebiets Charkiw entdeckt worden seien. Er verglich das russische Vorgehen mit den Nazi-Gräueln im Zweiten Weltkrieg. Zwar würden die Russen anders als die Nazis keine Seife aus den getöteten Ukrainern machen – und keine Lampenschirme aus ihrer Haut. „Aber das Prinzip ist das gleiche“, meinte der Staatschef.

UN-Untersuchung verlangt US-Außenminister Antony Blinken äußerte sich bestürzt über die Leichenfunde. Es werde immer offensichtlicher, wozu Wladimir Putin und seine Soldaten fähig seien, sagte er. Bundesverteidigungsministern Christine Lambrecht (SPD) forderte Untersuchungen durch die Vereinten Nationen. „Die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen müssen vor Gericht gestellt werden“, sagte sie.

Vorwurf der Lüge Witali Gantschew, Chef der unlängst von ukrainischen Truppen aus der Region vertriebenen prorussischen Verwaltung, warf der Ukraine dagegen eine Inszenierung vor. „Ich habe nichts über Grabstätten gehört“, sagte er dem staatlichen TV-Sender Rossija-24. (rtr, dpa, taz)

Maxim sagt: „Sie haben nach allen gesucht, die auf welche Weise auch immer den ukrainischen Widerstand unterstützt haben. Sie haben sich für diejenigen interessiert, die pro-ukrainisch waren, ob nun Angehörige der Armee oder der ukrainischen Anti-Terror-Operation ATO. Ich war eine Woche dort. Am 3. September haben sie mich eingesperrt, am 8. September wurden wir befreit.“

Er steht dabei fünf Meter von einem Massengrab entfernt. Hier, in einem Wald, fanden am 15. September Ermittler aus Charkiw bestattete Armeeangehörige, die kurz vor und während der Besatzung der Stadt im Frühjahr verstorben waren.

Nach Angaben von Olexandr Filtshakow, dem Leiter der Staatsanwaltschaft des Gebietes Charkiw, wurden bisher 445 verscharrte Zivilisten und ein Massengrab mit 17 Leichen ukrainischer Soldaten gefunden. Am Handgelenk eines getöteten Soldaten kann man noch zwei Armbänder in den ukrainischen Nationalfarben erkennen.

„In dem ersten Grab fanden wir eine Leiche mit einem Strick um den Hals. Eine Leiche mit Anzeichen eines gewaltsamen Todes“, sagt Filtshakow. Bei mindestens einem exhumierten Soldaten waren die Hände gefesselt. Filtschakow fügt hinzu, dass die bisher exhumierten Menschen zwischen März und Mai diesen Jahres gestorben seien. Als Todesursachen nimmt er die Folgen von Luft-, Raketen- und Artilleriebeschuss, aber auch Mord an. Inzwischen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Der Leiter der Ermittlungsabteilung der Staatspolizei der Ukraine im Gebiet Charkiw, Serhiy Bolwinow, ergänzt, dass jetzt rund 200 Ermittler, Kriminalisten, Gerichtsmediziner, Ärzte und Staatsanwälte arbeiteten.

„Wir haben die Menschen identifiziert und Registrierungsunterlagen sichergestellt, aus denen hervorgeht, dass in diesem Gebiet 445 Leichen begraben wurden. Es gibt eine Liste, die diejenigen geführt haben, die die Menschen bestattet haben. Hinter jeder Nummer stehen Vor- und Familienname und auch das Datum der Bestattung. Einige der exhumierten Leichen konnten wir schon identifizieren“, erklärt Bolwinow. Er ist davon überzeugt, „dass es sich um Kriegsverbrechen der russischen Faschisten an der ukrainischen Bevölkerung handelt“.

„Bei jedem Stromstoß beginnst du zu zittern“

Maxim, Bewohner von Isjum

„Dies ist die bislang größte Begräbnisstätte von Zivilisten, die während der Besatzung des Gebietes Charkiw ums Leben gekommen sind. Aber es gibt Informationen über weitere solche Orte, die wir derzeit prüfen“, sagt ein Polizist. Und er fügt hinzu, dass seit Kriegsbeginn infolge russischer Angriffe rund 1.200 Zivilisten in der Region umgekommen seien, darunter 54 Kinder.

Aus dem Russischen

Gaby Coldewey

meinung + diskussion