Mutmaßliche Kriegsverbrechen: Die Toten von Isjum
Nach dem Fund hunderter Gräber in Isjum werfen Ermittler den russischen Besatzern Kriegsverbrechen vor. Einwohner erzählen von Folter.
Dieses Wohnhaus wurde von russischen Kampfflugzeugen am 9. März morgens um neun während eines Versuches, die ukrainische Stadt zu stürmen, zerstört.
Serhij erinnert sich daran, dass die meisten seiner Nachbarn damals in einem Keller saßen, der von einer Granate getroffen wurde. „Die Menschen wurden im Keller verschüttet. Nach offiziellen Angaben hat man jetzt 46 von ihnen identifiziert, sieben noch nicht. Wie viele Menschen sich noch in dem Keller befinden, ist nicht bekannt, weil man erst einen Monat später begonnen hatte, die Leichen dort zu bergen“, so Serhij.
Er selber hat wie durch ein Wunder überlebt. Während des Beschusses war er bei seiner kranken Mutter in ihrer Erdgeschosswohnung geblieben. „Nach dem Granateinschlag stürzte ich in den Keller, zusammen mit Ziegelsteinen und einem Schrank. Ich konnte mich befreien, und meine damals bettlägerige Mutter herausziehen. Die, die sich unter dem mittleren Teil des Hauses befunden hatten, starben. Sechs Menschen, die am Rand des Kellers gesessen hatten, überlebten“, erzählt Serhij.
„Nach einigen Minuten verliert man das Bewusstsein“
Ein anderer Einwohner von Isjum namens Maxim blieb ebenfalls durch ein Wunder am Leben. Der 50-Jährige wurde von Angehörigen der ukrainischen Streitkräfte gerettet, als sie die Stadt am 8. September von der russischen Besatzung befreiten.
Maxim wurde am 3. September beschuldigt, aufgrund von gewöhnlichen Papierlandkarten der Gebiete Charkiw und Donezk, die in seiner Wohnung gefunden worden waren, zu spionieren und so der ukrainischen Artillerie bei ihren Angriffen geholfen zu haben. Deshalb wurde er in den Keller einer ehemaligen Polizeistation gebracht.
Die Okkupanten, so Maxim, hätten große Achtung vor Kriminellen gehabt, aber Angehörige der Anti-Terror-Operation (ATO) im Donbass, bestehend aus Angehörigen der ukrainischen Armee, die gegen die prorussischen Separatisten eingesetzt wurden, gefoltert.
„Ich hatte nur die Gartenpforte geöffnet, da schrien sie gleich: ‚An die Wand! Hände an die Wand!‘. Ich wurde gefesselt und abgeführt. Sie brachten mich in die ehemalige Polizeiwache. Dort waren Zellen. Im Erdgeschoss saßen Kriminelle, aber alle, sagen wir mal, Politischen oder Menschen, die sie mit dem Krieg in Verbindung brachten, waren im Keller, also quasi unter den Kriminellen“, erinnert sich Maxim.
Er erzählt, dass die russischen Besatzer Ukrainer gerne mit Stromstößen gefoltert hätten. „Es gab diese Folter mit Strom. Sie fesseln dich mit Handschellen, hier sieht man noch die Spuren davon. Dann setzen sie dich auf einen Stuhl und legen Elektroden an. Es gibt dort so ein spezielles Gerät, das ‚Tapik‘ heißt. Bei jedem Stromstoß beginnst du zu zittern. Ich war auch an den Beinen gefesselt. Ich fiel hin und hatte überall Schürfwunden. Das ist ein ziemlich heftiger Schmerz. Nach einigen Minuten verliert man das Bewusstsein. Ich glaube, man hält das etwa 15 bis 20 Minuten durch. Hinterher habe ich gefragt, wie lange ich bewusstlos gewesen war. Sie sagten, etwa 40 Minuten.“
Verhöre und Folter mit Säcken über dem Kopf
Maxim zeigt die Schrammen und Narben an seinen Handgelenken und Füßen. Er weiß nicht genau, wo genau sie ihn gefoltert haben, weil er immer mit einem Sack über dem Kopf zu den „Verhören“ gebracht wurde. Die fanden immer in dunklen Räumen statt und die „Ermittler“ selber trugen Stirnlampen, so dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte.
„Sie haben nach allen gesucht, die auf welche Weise auch immer den ukrainischen Widerstand unterstützt haben. Sie haben sich für diejenigen interessiert, die pro-ukrainisch waren, ob nun Angehörige der Territorialverteidigung oder der ATO. Ich war eine Woche dort. Am 3. September hatten sie mich eingesperrt, am 8. September wurden wir befreit. Das verdanken wir unserer Armee“, erzählt Maxim.
Er steht nur fünf Meter von einem Massengrab entfernt. Hier fanden am 15. September Ermittler aus Charkiw bestattete Armeeangehörige, die direkt vor und während der Besatzung der Stadt im Frühjahr gestorben waren.
445 verscharrte Zivilisten
Nach Angaben von Olexandr Filtshakow, dem Leiter der Staatsanwaltschaft des Gebietes Charkiw, wurden im Wald von Isjum bereits 445 verscharrte Zivilisten und ein Massengrab mit 17 Leichen ukrainischer Soldaten gefunden. Am Handgelenk eines getöteten Soldaten kann man noch zwei Armbänder in den ukrainischen Nationalfarben erkennen.
„In dem ersten Grab, das wir geöffnet haben, fanden wir eine Leiche mit einem Strick um den Hals. Eine Leiche mit Anzeichen eines gewaltsamen Todes“, sagt er.
Bei mindestens einem exhumierten Soldaten waren die Hände gefesselt. Filtschakow fügt hinzu, dass die Menschen, die sie jetzt exhumiert haben, zwischen März und Mai diesen Jahres gestorben sind. Die Todesgründe sind Raketen- bzw. Artilleriebeschuss, Ermordung, Luftangriffe.
Die Gräber waren erst am Vortag entdeckt worden, ein Ermittlungsverfahren nach Artikel 438, Absatz 2 des Strafgesetzbuchs („Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges“) wurde eingeleitet.
Beweismittel für einen Prozess in Den Haag
Der Leiter der Ermittlungsabteilung der Staatspolizei der Ukraine im Gebiet Charkiw, Serhiy Bolwinow, ergänzt, dass die Ermittlungen an den Gräbern erst am 16. September begonnen haben. Hier arbeiten jetzt rund 200 Ermittler, Kriminalisten, Gerichtsmediziner, Ärzte und Staatsanwälte.
„Wir haben die Menschen identifiziert, die an den Bestattungen beteiligt waren und Registrierungsunterlagen sichergestellt, aus denen hervorgeht, dass in diesem Gebiet 445 Leichen begraben wurden. Es gibt eine Liste, die diejenigen geführt haben, die die Menschen bestattet haben. Hinter jeder Nummer steht Vor- und Familienname und auch das Datum der Bestattung. Einige der exhumierten Leichen konnten wir schon identifizieren“, erklärt Bolwinow.
Er ist davon überzeugt, „dass jeder normale Mensch versteht, dass es sich hier um Kriegsverbrechen der Raschisten (ukrainischer Neologismus für „russische Faschisten“; Anm. der Redaktion) an der ukrainischen Bevölkerung handelt.“
„Dies ist die bislang größte Begräbnisstätte von Zivilisten, die während der Besatzung des Gebietes Charkiw ums Leben gekommen sind. Aber es gibt Informationen über weitere solche Orte, die wir derzeit prüfen“, sagt ein Polizist. Und er fügt hinzu, dass seit Kriegsbeginn in Folge russischer Angriffe rund 1.200 Zivilisten in der Region umgekommen seien, darunter 54 Kinder.
Die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden denken, dass alle hier erstellten Materialien später bei einer Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Beweismittel dienen können.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands