Der „Wilde Westen“ als Graphic Novel: Ein etwas anderer Karl May

Revolverheld im Krisenmodus: Comicautor Bruno Duhamel dekonstruiert in seiner Westernparodie „Falsche Fährten“ Mythen des „Wilden Westens“.

Comicausschnitt. Im oberen Bild machen Menschen Fotos mit ihren Smartphones, darunter sieht man, dass sie einen Cowboy auf einem Pferd fotografieren

In „Falsche Fährten“ ist Frank die Touristenversion eines Revolverhelden im heutigen Amerika Foto: Avant Verlag

Die Rolle des Jake „Wild Faith“ Johnson ist Frank geradezu auf den Leib geschrieben. Seit 15 Jahren verkörpert der Besitzer eines stolzen Schnauzbarts die vermeintlich heroische Westernlegende aus dem 19. Jahrhundert im Touristenkaff Woodstone in Arizona. Zusammen mit dem Pokerspieler „Doc“ tritt der Marshall Jake in einer Show „Butch“ und seiner Banditenbande am „Dead Horse Corral“ zum Gunfight entgegen, damit diese Woodstone nicht mehr terrorisiert.

Doch mit 40 Jahren wird Frank vom Chef der Wildwestshow gefeuert, weil der ihm vorwirft, sich zu sehr mit seiner Rolle zu identifizieren. Der Rauswurf stellt für Frank Paterson jr. eine Zäsur dar.

Spontan schließt er sich einer Touristenbusgruppe an, die durchs Monument Valley reist – und wird vor neue Herausforderungen gestellt, da in der Gruppe progressive Gesinnungen und reaktionäre hart aufeinanderprallen.

Der 1975 geborene französische Comiczeichner Bruno Duhamel ist hierzulande noch ein Geheimtipp. Dabei ist der Künstler in seinem Heimatland bereits eine feste Größe. Er hat sich in vielen Serienformaten und Genres wie Science-Fiction („Die Zeitbrigade“, auf Deutsch erschienen im All Verlag) oder Krimi („Harlem“, nicht ins Deutsche übersetzt) erprobt, oft nach Szenarios anderer Autoren.

Von Einsiedlern und Außenseitern

In den letzten Jahren hat sich Duhamel auf das Zeichnen von Graphic Novels konzentriert (die er allesamt fürs großformatige Albumformat konzipiert) und verfasst seine Szenarios nunmehr selbst. Seine pointiert ­erzählten Geschichten greifen aktuelle, gesellschaftskritische Themen auf und kreisen meist um einen „Einzelkämpfer“ – meist ein grimmiger Einsiedler oder Außenseiter, der in einer geografisch fest bestimmten, ländlichen Region verwurzelt ist.

Bruno Duhamel, „Falsche Fährten“. Avant-Verlag, Berlin 2022. 80 Seiten, Hardcover, 22 Euro

Duhamel hat sichtlich Spaß daran, solch leicht skurrile, aber durchaus lebensnahe Charaktere zu zeichnen und aus ihnen komplexe Persönlichkeiten zu entwickeln. Letztes Jahr brachte der Avant-Verlag erstmals einen solchen One-Shot Duhamels ­heraus: „Niemals“, die dichte Charakterstudie einer 95-jährigen, sturköpfigen Dame, die ihr Haus an der Küste der Normandie nicht mehr verlassen möchte, obwohl die Steilküste von Jahr zu Jahr erodiert und ihr Haus in den Abgrund zu reißen droht.

Mit „Falsche Fährten“ setzt Duhamel diesen Weg fort. Wieder steht ein Einzelgänger im Zentrum, geradezu ein Bilderbuchexemplar von einem Westernheld. Jedoch ist Frank das nur auf den ersten Blick, da es sich bei ihm ja nur um das Abziehbild der (angeblichen) Legende handelt, eine Touristenversion eines Revolverhelden im heutigen Amerika.

Denn der arbeitslose Fake-Gunfighter wechselt die Seiten und wird mithilfe seiner Abfindung selbst zum Touristen. Er wird nun den Westen selbst erkunden, aus seinem Geburtsort Woodstone war er zuvor noch nie herausgekommen. Comicautor Duhamel hinterfragt so den Westen der USA und seine oft idealisierten Legenden. Sie haben zumeist wenig mit den (historischen) Realitäten zu tun.

Abbildung einer gespaltenen Gesellschaft

So streiten sich die Touristen darüber, ob die berühmte pathetische Rede von „Grand Chief Seattle“ (eine von Duhamel erfundene Indianerlegende) wirklich so gehalten wurde. Oder ob es sich um eine Nachdichtung aus einer Siebzigerjahre-Fernsehserie handelt, wie der Wikipedia-­gebildete Frank behauptet. ­Duhamel treibt solche Konfrontationen mit analytischer Schärfe und beißendem, satirischem Humor auf die Spitze.

Die Touristengruppe wird dabei zum Abbild der heutigen gespaltenen amerikanischen ­Gesellschaft. Gut meinende Demokraten und Native-­Versteher stehen dem (zwischen Bodenständigkeit und Realitätsferne schwankenden) Frank und einem sich hart gebenden Ex-­Marine gegenüber. Letzterer gibt sich als Waffenfetischist und Anhänger von Verschwörungs­theorien zu erkennen.

Duhamel überzeichnet seine Figuren, um deren Abgründe offenzulegen. Und er legt ihnen pointierte Dialoge auf die Zunge, die unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschichte der amerikanischen Siedler und ihre Konflikte mit den First Nations offenlegen. So bröckelt die Fassade des Wilden Westens im Laufe der Lektüre immer weiter.

Dies führt zu Polarisierungen in der Touristengruppe, die sich fast zwangsläufig in Gewalt zu entladen scheinen. Franks Horizont weitet sich auch durch einen Drogentraum, in dem er dem echten Jake „Wild Faith“ Johnson begegnet, der so gar nicht Franks Vorstellungen entspricht.

Bruno Duhamel gelingt mit „Falsche Fährten“ das Kunststück, die Lesenden mit erzählerischen Finten und einer guten Portion Humor zu überraschen. Auf einigen Doppelseiten und großen Splash-Panels ­beweist er auch, dass er die karge Schönheit des Westens auf beeindruckende Weise in seinen Zeichnungen festzuhalten weiß.

In der Einleitung zum Buch erklärt der Zeichner, eine „Rechnung mit dem Westerngenre“ begleichen zu wollen. Und ­gesteht zugleich, selbst noch nie im Wilden Westen gewesen zu sein.

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