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Die eigenen Gedanken durch den anderen klären

Zum ersten Mal erscheinen die Gespräche des Filmkritikers Gideon Bachmann mit dem Regisseur Pier Paolo Pasolini gesammelt auf Deutsch

Pasolini/Bachmann: „Gespräche 1963–1975“. Aus dem Italienischen und kommentiert von Fabien Vitali. Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2022, 264 Seiten (Vol. 1, Gespräche), 584 Seiten (Vol. 2, Kommentar), 64 Euro

Von Tim Caspar Boehme

Das muss man sich erst einmal trauen. Als Journalist merklich unvorbereitet zu einem Interview erscheinen und den Gesprächspartner mit unklaren Fragen bombardieren, auf deren richtigem Verständnis man dann beharrt, oder minutenlang drauflos assoziieren, obwohl man gerade Material für eine Radiosendung sammelt, in der das Gegenüber im Mittelpunkt steht.

Der italienische Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini ertrug all dies mit erstaunlicher Geduld, als ihn der Filmkritiker Gideon Bachmann im Jahr 1963 zum ersten Mal in Rom aufsuchte, um über den Skandalfilm „La ricotta“ zu sprechen, der Pasolini wegen kritischer Darstellung der katholischen Kirche ein Gerichtsverfahren beschert hatte.

Mit diesem „Gespräch“ eröffnet der Doppelband „Pasolini. Bachmann: Gespräche 1963–1975“, der Bachmanns Texte zum ersten Mal in einem Band auf Deutsch versammelt. Dabei haben die Herausgeber, anders als bei vorangegangenen Veröffentlichungen, keine redaktionellen Eingriffe vorgenommen, sondern die oft mäandrierenden Gesprächsverläufe der ungleichen Partner vollständig wiedergegeben, mit allen Abwegen und Sackgassen, die sich mitunter einstellten.

Warum tut man so etwas? Und dann mit einem an die Seite gestellten Kommentarband, der im Vergleich zum Originalmaterial mehr als das Doppelte an Umfang beansprucht? Die Frage beantwortet der Übersetzer und Kommentator Fabien Vitali sowohl im Vorwort als auch in den zahlreichen Anmerkungen zu den Gesprächen.

Zunächst ist es vor allem die Person Bachmann, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Als Hans Werner Bachmann 1927 in Heilbronn geboren, emigrierte seine jüdische Familie 1936 mit ihm zunächst nach Palästina, er selbst wanderte 1948 in die USA aus. Anfang der Sechziger zog er nach Italien. Zurück nach Deutschland ging er 1996, wo er 20 Jahre später in Karlsruhe starb. Im Lauf seines Nomadenlebens führte er rund 500 Interviews, die in seinem Nachlass enthalten sind.

Dabei haben die Herausgeber keine redaktionellen Eingriffe vorgenommen

Bachmann, der für sich den Vornamen Gideon wählte, interviewte Pasolini 1965 für seine Radiosendung „The Film Art“, die von einer US-amerikanische Radiostation ausgestrahlt wurde. Ein bisschen autoritär und erkennbar ignorant tritt Bachmann hier gegenüber Pasolini auf. Was diesen nicht aus der Ruhe bringt. Und der Auftakt für wiederholte Treffen ist, die 1975 in gleich vier Gesprächen gipfeln, die Bachmann mit Pasolini während der Dreharbeiten zu dessen letztem Film „Salò oder die 120 Tage von Sodom“ führte.

Der besondere Charakter dieser Texte macht sie ungeeignet für das etwaige Bedürfnis, sich schnell ein paar gezielte Informationen zu Pasolinis Schaffen anzueignen. Bachmann verließ sich, wie Vitali in seiner Einleitung herausstellt, vor allem auf seine Intuition, die intellektuelle Haltung Pasolinis war für ihn kein Anlass, diesem auf Augenhöhe zu begegnen. Er „benutzte“ den anderen im Gespräch vielmehr zu dem Zweck, „die eigenen Gedanken zu klären“. Vitali nennt Bachmanns eigenwillige Position akademisch diskret „das kulturell und epistemisch Andere“. Anfangs kommen zudem Übersetzungsschwierigkeiten hinzu, da Bachmanns Italienisch noch rudimentär war, seiner Übersetzerin gegenüber verhielt er sich gleichwohl sehr selbstbewusst.

Man liest diese Gespräche ungeachtet ihrer unter handwerklichen Gesichtspunkten dürftigen Qualitäten mit Gewinn. Den intellektuellen oder historischen Hintergrund der Gespräche liefert Vitali im Kommentar, in dem er etwa die komplizierte Situation zur Zeit der „Republik von Salò“ in Italien gegen Ende des Zweiten Weltkriegs skizziert oder einzelne Positionen strukturalistischer und poststrukturalistischer Philosophie zu de Sade vorstellt, auf die sich Pasolini in „Salò“ bezog. Vereinzelt findet sich im Apparat der eine oder andere sinnentstellende Fehler, den das Lektorat übersehen hat. Die Vorzüge dieser Ausgabe überwiegen allemal.

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