: Mit heilsamem Singen gegen Angst, Stress und Schmerzen
Ob Krebs oder Demenz: Wenn Patienten im Krankenhaus singen, kann sie das in ihrer gesundheitlichen Krise stärken und Mut machen
Von Joachim Göres
Vier Frauen und ein Mann sitzen im Kreis im Stationsgarten der Psychiatrischen Klinik Lüneburg und singen ein Lied, das Annette Bruns angestimmt hat und mit ihrer Gitarre begleitet. „Ein kleines Lied / ein klitzekleines Lied / ein kleines Lied jeden Tag / ändert dein Leben / und es bleibt nichts, wie es war /ändert dein Leben /und es ist auf einmal klar.“ Dann geht der Text wieder von vorne los. Zwischendurch werfen die Sängerinnen ein Wort in die Runde und aus „Ein kleines Lied“ wird „Ein kleiner Schritt“, „Ein kleiner Gruß“ oder „Ein kleines Eis“.
Immer mittwochs trifft sich die Gruppe für 90 Minuten zum „heilsamen Singen“. Die Kulturpädagogin Bruns wählt dafür Lieder mit kurzen Texten und eingängigen Melodien aus, die positive Botschaften vermitteln und Mut machen sollen. Die Zeilen werden singend wie ein Mantra ein Dutzend Mal und mehr wiederholt. Noten oder Textblätter braucht niemand, denn die meisten sind schon seit vielen Jahren dabei und kennen die Lieder samt Liederbuchnummer auswendig. So ist es auch bei „Together we are strong“, das wie das erste Stück von Katharina Bossinger geschrieben wurde und dessen deutsche Textzeile wie folgt lautet: „Gemeinsam Schritt für Schritt / und meine Hand nimmt dich mit / Gemeinsam Schritt für Schritt / ich nehm dich mit.“
„Hier ist man immer willkommen, egal wie es einem gerade geht. Das stärkt das Selbstbewusstsein“, sagt Ulrike Behring, die sich nach dem Singen gelöster fühlt. Sabine Landeck schätzt, dass man am Rande erzählen kann, wie es einem gerade geht und dass dabei nicht nur Trübsal geblasen wird: „Man lacht miteinander, das tut gut.“ Die immer wiederkehrenden Liedstrophen geben ihr Kraft, wie der Song „Ich bin schön“, der mit der Zeile endet: „Am Ende des Tunnels ist ein Licht.“
Vor Beginn der Pandemie kamen immer 15 bis 20 Personen mit Erfahrungen aus der Psychiatrie zum heilsamen Singen in die Klinik – viele haben sich inzwischen zurückgezogen. Aus Sicherheitsgründen wird jetzt nur noch draußen gesungen, auch im Winter. „Dann ziehen wir uns warm an und bewegen uns, wenn es zu kalt wird. Der Termin ist zu wichtig, um ihn ausfallen zu lassen“, sagt Behring. Sie berichtet, dass manchmal in der Gruppe auch geweint wird, wenn ein Lied jemanden sehr berührt hat.
„Singen kann keine Krankheit heilen, aber es kann den Heilungsprozess unterstützen. Es hat eine Wirkung auf den Körper“, sagt Bruns, die im Sozial- und Kulturzentrum der Psychiatrischen Klinik als Singleiterin sowie als Musik- und Theaterpädagogin arbeitet. Sie betont, dass Vorkenntnisse nicht verlangt werden und es nicht wichtig ist, ob man die Töne trifft.
Das gilt auch für das Musikangebot „Sing mit“, das sich an stationäre Patienten der Klinik wendet. Daran nehmen auch Menschen mit Demenz teil, die einmal die Woche drinnen und mit Maske bekannte Melodien wie „Pack die Badehose ein“, „Auf der Lüneburger Heide“ oder „Der Kuckuck und der Esel“ zusammen mit Bruns singen. „Oft kennen sie die Texte von früher auswendig. Die Lieder wecken viele Erinnerungen und manch einer sagt danach: ‚Jetzt hab ich mich richtig jugendlich gefühlt‘.“
Wie Bruns hat auch Jochen Bockholt eine Weiterbildung zum zertifizierten Singleiter für Gesundheitseinrichtungen und Krankenhäuser mit Erfolg abgeschlossen und kann in so genannten Singenden Krankenhäusern Gruppen leiten – Krankenhäuser, die sich wie die Psychiatrische Klinik Lüneburg verpflichtet haben, für ihre Patienten regelmäßig unter Leitung einer Fachkraft ein gemeinsames Singen anzubieten. Dabei ist das Singen kein Ersatz für eine medizinische Behandlung, sondern eine Ergänzung.
Bockholt singt an der Medizinischen Hochschule Hannover mit Krebspatientinnen, um Stress abzubauen und neue Energie zu gewinnen. „Wenn es einem schlecht geht, hält man schnell reflexhaft den Atem an. Wir vertiefen durch das Singen die Atmung, dann bleibt nur noch der halbe Schmerz übrig“, erklärt Bockholt, bevor er mit sieben Frauen zwischen Mitte 20 und Ende 50 das nächste Lied anstimmt: „Ja, ich fühle Sinn/geb das Klagen hin/Und was vorher schwer/wandelt sich ins Mehr/Liebe soll allein/Ziel und Weg mir sein/Wunden werden dann/Wunder irgendwann.“
Patient*innen, die dem Rat ihrer Ärzt*innen vertrauen, sind eher an einem Gesundheitskurs interessiert, wenn dieser auf einer ärztlichen Empfehlung beruht. Hier setzt das „Rezept für Bewegung“ an, eine schriftliche Empfehlung für körperliche Aktivität, und wird im Rahmen der neuen Kampagne „Bewegung ist die beste Medizin“ von der Deutschen Krebshilfe unterstützt. Denn: Bewegung hält gesund und reduziert auch das Risiko für bestimmte Krebsarten. Doch weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung erreicht die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene wöchentliche Mindestzeit von zweieinhalb Stunden gemäßigter Bewegung. Das „Rezept für Bewegung“ beinhaltet vier Bewegungsschwerpunkte, auf die Ärzt*innen explizit verweisen können: Herz- Kreislauf-System, Haltungs- und Bewegungssystem, allgemeines Gesundheitstraining sowie Stressbewältigung und Entspannung.
Weitere Informationen zum „Rezept für Bewegung“ gibt es auf der Webseite gesundheit.dosb.de/angebote/rezept-fuer-bewegung.
Während sie singend diese Zeilen wie ein Mantra immer aufs Neue wiederholen, führen die Frauen, durch das Vorbild Bockholt ermuntert, fließende Qi-Gong-Bewegungen aus. „Das Singen zusammen mit der Bewegung fand ich ganz toll, danach hab‘ ich mich ganz losgelöst gefühlt. Ich war entspannter und ausgeglichener“, sagt eine 28-jährige Teilnehmerin. Bockholt freut sich über die große Offenheit der Frauen für sein musikalisches Angebot. „Es geht um die Haltung zum Leben, es geht darum, Frieden zu schließen mit dem, was gerade ist“, sagt er und fügt hinzu: „Viele sind überrascht, dass sie singen dürfen und können. Das ist erlösend, oft fließen Tränen.“
Ein Allheilmittel ist das Singen nicht. „Wir wissen und respektieren, dass es Menschen gibt, die keinen Zugang zum Singen finden“, räumt die Psychologin Elke Wünnenberg ein, erste Vorsitzende des Vereins Singende Krankenhäuser. Vor allem Männer sind häufig skeptisch.
Diese Erfahrung hat auch Sebastian Stierl gemacht, ehemals ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Lüneburg. „Ein Krankenpfleger hat mir dann gezeigt, wie es geht. Männer brauchen Texte und eine Gitarre zur Unterstützung! Und dann ging es auch hier“, sagt Stierl in einem Interview in dem von dem Verein Singende Krankenhäuser herausgegebenen Tagungsband „Singen als heilsame Kraft“ und ergänzt: „Das Gesicht eines Menschen am Anfang und am Ende einer Singrunde spricht Bände!“
Mehr Informationen zum Verein Singende Krankenhäuser unter www.singende-krankenhaeuser.de
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