doppelblind: Dem Chaos auf der Spur
Wenn eine Sommerbrise über den Atlantik huscht, kann das der Wettervorhersage für den nächsten Tag egal sein. Aber unter bestimmten Umständen kann diese Brise als ein Faktor von vielen zu einem Hurrikan beitragen. Denn Wetter ist ein chaotisches System. Es ist nicht stabil und lässt sich auf Jahrzehnte vorhersagen, ist aber auch nicht komplett zufällig und entzieht sich jeder Prognose. Es lässt sich kurzfristig voraussagen, verändert sich aber umso dramatischer, je langfristiger man es betrachtet.
Im 19. Jahrhundert nahmen die ersten Ökolog*innen an, dass die Natur ein stabiles System ist. Ab den 1970ern hinterfragten einige Biolog*innen diese Annahme, konnten aber auch mit den stärkeren Modellen der 1990er nur wenig Chaos feststellen.
Eine Studie, die kürzlich in der Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution erschien, hat sich das Chaos in der Natur noch einmal angesehen. Die Modelle der 90er betrachteten nur die Entwicklung der Populationsgröße über lange Zeiträume. Die Autor*innen der Studie fügten der Populationsgröße nun andere Variablen wie Temperatur, Regen und Interaktionen mit anderen Spezies hinzu, die möglicherweise langfristig einen Einfluss auf die Arten haben könnten. Dafür nutzten sie 4.471 Zeitreihen von 1.891 Arten der Global Population Dynamics Database.
Ihr Ergebnis: Etwa ein Drittel der untersuchten Populationen – dreimal so viel wie bislang vermutet – wurden von chaotischen Interaktionen beeinflusst. Das heißt nicht, dass die Populationsentwicklung chaotisch verlief. Sondern dass der Einfluss beispielsweise des Regens chaotisch, also nur kurzfristig vorhersehbar war.
Die Forscher*innen vermuten, dass sie das Chaos in der Natur sogar unterschätzen, weil sich kurzlebige Tiere und Pflanzen wie Plankton um ein Vielfaches chaotischer entwickeln als Säugetiere oder Vögel. Mehr als die Hälfte des der Studie zugrundeliegenden Datensatzes stammt von Säugetier- und Vogelpopulationen, obwohl sie nicht mal 1 Prozent der Arten der Erde ausmachen.
Dass die Natur chaotischer ist als bislang gedacht, ist besonders für die Naturschutzforschung von Bedeutung. Denn wenn sie in ihren Modellen das Chaos vernachlässigen, kommen sie etwa bei der Vorhersage von giftigen Algenblüten oder den Folgen der Überfischung zu falschen Ergebnissen. Die Studienautor*innen warnen gleichzeitig davor, zu viel Hoffnung in die Erforschung des Chaos in der Natur zu haben, denn Chaos als mathematischer Faktor geht von einem stabilen Normzustand aus. Den gibt es aber gar nicht mehr: Klimawandel und menschengemachtes Artensterben verändern die Erde zu schnell, um chaotisch-verlässliche Berechnungen anzustellen. Jonas Waack
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