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kritisch gesehenIntervention in die Vorhölle

So, also jetzt mindestens 45 Minuten Aufenthalt. Und das auch nur, wenn der Anschlusszug pünktlich kommt, was er nie tut: Der Bahnhof Harburg ist ein aus irgendeinem Grund notwendiges Übel, das Ort gewordene Brecht-Gedicht von der Autopanne, nur halt in Eisenbahn.

Aber die Welt wird von Tag zu Tag besser, wenn jemand dem Elend etwas entgegensetzt. Und das tut der Kunstverein Harburger Bahnhof: Er interveniert in diese Vorhölle. Mit Ausstellungen. Den schmucken Showroom oben bespielt Nina Kuttler mit einer Videoinstallation zu Sofja Kovalevskaja und noch einer anderen wichtigen Mathematikerin, aber die Loops fordern von ihren Be­trach­te­r*in­nen mehr Ruhe, als sie ein Umsteigebahnhof zulässt. Wie für den aufmerksamkeitsdefizitären Ort und dessen lähmende Betriebsamkeit geschaffen wirkt dagegen Lil Jahrs Serie „Things That Found No Space“ in den vier Vitrinen zwischen Gleis drei und vier: Die holzgerahmten Schaukästen sind Teil des historischen Bahnhofs-Meublements. Früher enthielten sie Fahrplanaushänge. In wohltuender Gelassenheit erlaubt diese Kunst also, übersehen zu werden. Wer allerdings einen Blick in die kaiserzeitlichen Kästen wirft, stutzt: Jahr hat in drei von ihnen Fernweh-Nippes montiert, Kühlschrankmagneten, aus allen nur erdenklichen Ländern.

Die Dinger sind teils in waagerechten parallelen Reihen, teils in senkrechten Einzelkolonnen gruppiert. Andere haben sich zu Paaren zusammengefunden. Die Muster scheinen sich daraus zu ergeben, dass die Einzelstücke nach ihrer jeweiligen Form sortiert wurden. Das sorgt für geografisch überraschende Nachbarschaften: Malaga, Bodensee, Miami-Beach- und Kreta-Delfine sind irgendwie verwandt mit dem Holstentor-Flaschenöffner und Shanghai-Skyline-Button. Und Vila Nova de Milfontes sowieso.

Die industrielle Gleichförmigkeit dieser Souvenirs kann kaum besser ausgestellt werden. Sie wird zum grotesken Witz, sobald der Gedanke an ihre Funktion dämmert: Erinnern an besondere Orte und schöne Stunden. Wie das Begehren im Alptraum findet das vergangene Idyll im Ramsch seinen Ausdruck, das einzigartige Erlebnis im Massenfabrikat. Als Schlusspointe lässt sich die vierte Vitrine lesen: Ihr hat Jahr mittels einer rot-weiß-gestreiften Markise zusätzliche Räumlichkeit verliehen – und sie hat Platz nur für ein einziges Bild, das Foto eines Kiosks. In dem gibt’s Andenken, an Hamburg, Deutschland und Venedig – alle Hässlichkeit der Welt. Benno Schirrmeister

bis 14. 8., Bahnhof Hamburg-Harburg

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