Berlin per Rad:
Das Paradies ist endlich

Kein Bundesland hat größere Ambitionen bei der Förderung des Radverkehrs als Berlin. Trotzdem werden hier im Schnitt weiter zwei Radfahrer und Fußgänger pro Monat getötet

Die schöne neue Radfahrwelt ist in Berlin oft noch nicht mehr als ein Provi­sorium Fotos: Michael Barker

Von Michael Barker
und Nicola A. Mögel

Auf Berlins Straßen sind Radfahrende eine bedrohte Spezies, so das Narrativ. Stimmt das? Wir gehen es an. Michael, gelernter Berliner, zieht seinen Helm auf, klickt in die Pedale, und los geht’s vor dem taz-Haus in der Friedrichstraße. Mit dem neugierigen Blick der radelnden Nürnbergerin fahre ich mit meinem Faltrad mit. Leider nicht allzu weit, denn die erste rote Ampel nimmt uns den Schwung. Unglaublich lange dürfen wir vorbeifahrende Autoschlangen aus allen Richtungen beobachten. Das Schauspiel interessiert jedoch nicht alle Radfahrenden, und so schlängelt sich der eine oder die andere über den Fußweg durch die Zuschauenden.

So macht es Spaß. Ein Fahrradparadies. Keine Autos, viel Platz, rechts und links Sitzgelegenheiten statt Parkplätze. Hat hier die Pariser Fahrradhauptstraße Rue de Rivoli Patin gestanden? Die Berliner Variante verläuft auf einem Teilstück der Friedrichstraße – passenderweise vor den Galeries Lafayette. Aber warum ist die Geschwindigkeit auf 20 Stundenkilometer begrenzt?

Das Paradies ist endlich und endet recht unvermittelt, wohl auch für die ortsunkundigen Autofahrenden auf den Querstraßen. Deren recht undurchsichtiges Abbiegemanöver auf mehreren Spuren ein paar Meter weiter lässt keinen Raum mehr für schmale Zweiräder. Eine harte Landung im echten Fahrradleben. Und bei einem längeren Bremsweg vermutlich auf dem Asphalt.

Es ist eine Gemeinschaftsspur für Busse und Radfahrende. Und diese ist jetzt eben blockiert

In gemäßigtem Tempo – Ampeln, Buckelpisten und auch gegen die Fahrtrichtung gepolte E-Scooterist*innen nehmen die Geschwindigkeit raus – rollen wir dahin. Aber was ist das? Es rauscht, und schon ist er nur eine Lenkerbreite links neben uns. Zum Stehen kommt der gelbe Koloss recht unvermittelt direkt auf der Radspur. Ach nein, es ist eine Gemeinschaftsspur für Busse und Radfahrende. Und diese ist jetzt eben blockiert. Es erfordert Beherztheit, daran vorbei in den fließenden Verkehr auszuscheren. Doch hinter dem Bus fühlt es sich auch nicht wirklich sicher an.

Für Sicherheit sorgen in Friedrichshain-Kreuzberg grüne Kunststofferhebungen entlang des Radwegs. Die Fahrbahntrennung gibt es in verschiedenen Ausführungen, gemeinsam ist ihnen, dass sie nicht von Au­to­fah­re­r*in­nen überrollt werden können. Im nächsten Bezirk ist es dann wieder anders. Hier parkt der Lieferwagen mitten auf dem Radweg. Auf die Auto­spur ausweichen oder gar rechts daran vorbei?

Ohne Risiko ist so ein Überholmanöver auf keinen Fall. Auch wenn die meisten Unfälle von Radfahrenden eher glimpflich ausgehen, verunglücken doch täglich Radfahrende schwer auf deutschen Straßen und viel zu häufig enden die Unfälle tödlich. Dann stellt der ADFC Berlin gemeinsaman mit Changing Cities an den Unfallorten zur Erinnerung an die tödlich Verunglückten weiße, sogenannte Ghostbikes auf. 2021 starben in Berlin 13 Fuß­gän­ge­r*in­nen und 10 Radfahrer*innen.

Es sind einfach zu viele Autos. Sie parken den Straßenraum zu, blockieren immer wieder Rad- und Fußwege, nehmen die Sicht und drängen die Fuß­gän­ge­r*in­nen und Radfahrenden in die Enge. Im Fahrradparadies würden alle Beteiligten Rücksicht aufeinander nehmen, den ­anderen ihren Raum lassen und sich solidarisch mit den Schwächeren zeigen.Die Realität auf den Berliner Straßen sieht anders aus. Richtig sicher fühlt es sich nur da an, wo Trennelemente die Trasse der Radfahrenden von der Autospur separieren.

An der S-Bahn verabschiede ich mich von Michael. Und wie fühlt es sich jetzt an, in Berlin mit dem Rad unterwegs zu sein? Nicht direkt bedrohlich, aber auch nicht entspannt und gleichberechtigt. Ampeln und Verkehrszeichen werden schon mal ignoriert, Autotüren abrupt geöffnet, Lkws biegen zu schnell ab und Radwege enden plötzlich auf der Straße. Wer da auf der Hut ist und vorausschauend fährt, lebt wahrscheinlich länger.

Das mag zwar dem einen oder anderen als Minimalergebnis reichen. Ein sicheres Miteinander im Straßenverkehr wird damit definitiv nicht erreicht. Der erste Paragraf der Straßenverkehrsordnung erfordert eine ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Hier hat das Gesetz auch die Radfahrenden und Fußgänger*innen, egal wie alt sie sind und wie geschickt sie agieren, im Blick. Es müssten sich nur alle dran halten.