Janis Ehling über die Linkspartei: „Wir haben einen großen Umbruch“

Die Linkspartei habe „kein Recht, sich selbst aufzugeben“, sagt Janis Ehling. Der 36-jährige Ostberliner will ihr neuer Bundesgeschäftsführer werden.

Janis Ehling

Janis Ehling: „Der Wille zum gemeinsamen Handeln muss wieder erkennbar werden“ Foto: Maik Brückner

taz: Herr Ehling, die Linkspartei befindet sich in einer Existenzkrise. Was motiviert Sie dazu, ausgerechnet in einer solchen Situation deren Bundesgeschäftsführer werden zu wollen?

Janis Ehling: Es klingt vielleicht verwegen, aber ich habe wahnsinnige Lust, den Laden wieder auf Vordermann zu bringen. Ja, die Situation ist beschissen, aber alles andere als ausweglos. Denn der derzeitige Zustand birgt auch eine Chance. Eine so große Organisation wie eine Partei ist wahnsinnig schwerfällig. Das erschwert notwendige Veränderungsprozesse. Doch so eine tiefe Krise, wie die derzeitige, lässt das Bewusstsein für die Notwendigkeit für Veränderungen, die längst überfällig sind, wachsen und das Beharrungsvermögen schwinden. Das will ich nutzen.

Vielleicht passen ja auch die eher behäbigen Ostlinken aus der PDS und die streitlustigeren Wessis aus der WASG einfach nicht zueinander und jetzt geht es eben nicht mehr.

Das ist mir zu klischeehaft. Richtig ist, dass es unterschiedliche Erfahrungshorizonte gibt. Ich bin 1985 in Rostock geboren worden, kurz darauf sind meine Eltern in die Hauptstadt der DDR gezogen, wo ich dann aufgewachsen bin. Bis heute definiere ich mich ganz identitär als Ostberliner. Das hängt mit den Umbrucherfahrungen nach dem Mauerfall zusammen.

In den 1990er Jahren, also in meiner Kindheit und Jugend, war die ehemalige DDR das Versuchslabor des Neoliberalismus in Deutschland. Und das hatte ganz konkrete Auswirkungen auf die Lebensbiographien. In meiner Verwandtschaft sind ganz viele erstmal arbeitslos geworden, einige haben sich nie wieder gefangen. Wenn plötzlich deine engsten Verwandten Existenzängste haben, dann prägt dich das.

Was haben Ihre Eltern beruflich gemacht?

Sie sind beide Geolog:innen. Das bedeutet, dass ich in meiner Kindheit sehr viel Zeit in Steinbrüchen und in alten Gebäuden verbracht habe. Alte Gebäude mag ich immer noch, Steinbrüche weniger.

Sie selbst haben in Marburg studiert, also in Westdeutschland.

Ich habe zuerst an der FU Berlin studiert, aber das habe ich abgebrochen und stattdessen ein halbes Jahr auf dem Bau gearbeitet. Das war ein Knochenjob, der mich sehr motiviert hat, es doch noch mal mit dem Studium zu probieren. Respekt für alle, die das ihr Leben lang machen. 2008 bin ich nach Marburg gegangen.

Da hatte ich zwei für mich erstaunliche Erlebnisse: Zum einen wurde da ausführlich die Geschichte der BRD behandelt, die der DDR kam jedoch nicht vor. Als hätte es sie nicht gegeben. Ich habe jetzt nicht gerade einen positiven Bezug zur DDR, aber das hat mich schon stutzig gemacht. Zum anderen war für meine Kom­mi­li­to­n:in­nen 1989 überhaupt keine wichtige Kategorie. Das hat mir veranschaulicht, wie unterschiedlich Lebensrealitäten sein können. Erst in Marburg ist mir so richtig klar geworden, wie sehr ich eigentlich Ossi bin.

geboren 1985 in Rostock, ist Mitglied im Parteivorstand der Linken. Von 2014 bis 2017 war er Bundesgeschäftsführer des Studierendenverbands Die Linke.SDS. Der Politikwissenschafter lebt in Berlin und ist Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di sowie des Imkervereins.

Sie bezeichnen sich selbst als „Ossi“?

Heute würde ich mich manchmal eher als „Wossi“ bezeichnen. In Marburg hatte ich das Glück, bei den damals noch vorhandenen Resten der 68er-Generation studieren zu können, den Schülern des linkssozialistischen Politologen Wolfgang Abendroth wie Frank Deppe oder Georg Fülberth. Das war sehr lehrreich.

Ich habe dort die Traditionen der westdeutschen Linken aufgesogen, die mich fasziniert haben, weil sie ein anderes Linkssein verkörperten – widerständiger, politisch einmischender und selbsttätiger. Ich glaube, dass wir aus beiden linken Geschichten in Ost und West viel lernen können, im Guten wie im Schlechten.

Waren Sie schon Mitglied der Linkspartei, als Sie nach Marburg gekommen sind?

Nein. Kurz nachdem ich in Marburg angekommen bin, bin ich erstmal über einen Marx-Lesekreis zu deren Studierendenverband Die Linke.SDS gestoßen, dessen Bundesgeschäftsführer ich später auch war. In die Partei bin ich 2009 eingetreten.

Sie waren nicht in der PDS?

Das war für mich keine Option, weil die PDS in der damaligen rot-roten Regierung in Berlin die Wohnungen mitprivatisiert hat. Damit konnte ich überhaupt nichts anfangen. Aber den Vereinigungsprozess von PDS und WASG ab 2005 habe ich dann als einen Aufbruch erlebt, an dem ich mich beteiligen wollte. Das treibt mich auch jetzt an: Unser Kampf für soziale Gerechtigkeit, für höhere Löhne, gegen steigende Mieten, für Abrüstung und auch gegen den menschengemachten Klimawandel muss weitergehen.

Die Linke wird gebraucht und hat deswegen kein Recht, sich einfach selbst aufzugeben. Das darf es nicht gewesen sein – und das ist es meiner Überzeugung nach auch nicht gewesen.

Gregor Gysi fordert, die Linkspartei müsse wieder zu ihrer Ostidentität zurückfinden. Sehen Sie darin einen Ausweg aus der Krise?

Ich halte das explizit für falsch. Denn es greift zu kurz. Es gibt ein krasses Auseinanderdriften sowohl zwischen Arm und Reich, als auch zwischen Aufstiegs- und Abstiegsregionen. Da müssen wir einen gesamtdeutschen Blick haben. Abgehängte Regionen gibt es nicht nur im Osten, schauen Sie nur mal ins Ruhrgebiet. Auch hier gilt, dass sich die Linke nicht auf bestimmte Milieus verengen darf.

Außerdem erscheint mir eine Rückbesinnung auf alte PDS-Zeiten nicht zukunftstauglich. Wir haben ja einen wirklich großen Umbruch in der Partei. In den letzten acht Jahren hat sich die Hälfte der Mitgliedschaft ausgewechselt, also rund 30.000 sind neu. Viele Ältere haben die Partei verlassen oder sind gestorben, die Jüngeren, die hinzugekommen sind, denken und handeln in der Regel nicht in Ost-West-Kategorien. Die haben übrigens auch vielfach andere Vorstellungen von Politik, was selbstverständlich Konflikte mit sich bringt.

Wie äußern sich die?

Ob im Osten oder Westen haben wir vor allem in den großen Städten Zuwachs von jungen Leuten bekommen, die natürlich ihre eigenen Themen und Formen einbringen. Die sind ganz selbstverständlich bei Fridays for Future, in der Antifa, in Flüchtlingsinitiativen oder sind gewerkschaftlich organisiert. Die haben also häufig einen bewegungsorientierteren Ansatz und einen Anspruch, auch innerparteilich Bestehendes zu verändern. Nicht selten treffen sie auf Ältere, die sagen: Aber wie wir das machen, haben wir das schon immer gemacht – und wir wollen, dass das so bleibt. Da geht das Gemeinsame oft flöten.

Was wäre die Lösung?

Notwendig ist gegenseitige Akzeptanz und ein Aufeinanderzugehen. Einer meiner liebsten Genossen in meiner Basisgruppe in Berlin-Friedrichshain ist 81 Jahre alt, der war lange VVN-BDA-Vorsitzender im Bezirk und steht immer noch jede zweite Woche am Infostand. Und ein- bis zweimal im Jahr macht er einen antifaschistischen Stadtrundgang bei uns im Bezirk.

Davor habe ich unglaublichen Respekt. Wir haben ein Verständnis füreinander entwickelt. Wir teilen die unbedingte Überzeugung, dass linke Politik ohne Basisarbeit nicht geht, und haben zum Beispiel gemeinsam Unterschriften für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ gesammelt.

Klingt etwas idealisierend. So einfach lässt sich der Generationenkonflikt auflösen?

Ich finde es wichtig, dass unterschiedliche Traditionen und Zugänge zusammenfinden, wenn es auch nicht immer einfach ist. Wie groß unsere Gemeinsamkeiten sind, hat sich beispielsweise in der „Flüchtlingskrise“ 2015 gezeigt. Da war ich total überrascht von meiner älteren Genoss:innen, die Unglaubliches auf die Beine gestellt haben, um den Menschen zu helfen. Die haben mir gesagt: Wir haben als Kinder selbst Fluchterfahrung gemacht, und das wünschen wir keinem, also müssen wir hier helfen.

Was muss sich aus Ihrer Sicht in der Linkspartei ändern?

Das ist ein ganzes Konglomerat. Nehmen Sie nur mal die vergangene Europa- und die verlorene Bundestagswahl: Beide Male haben wir mit der Vorbereitung des Wahlkampfs zu spät angefangen, hatten jeweils ein Wahlprogramm und eine Wahlstrategie, die nicht von der gesamten Partei vertreten wurden.

Unsere Wahlkampagne hat nicht mal die eigenen Mitglieder abgeholt. Wie soll sie dann potentielle Wäh­le­r:in­nen motivieren? Unsere Kampagnen müssen mehr Wumms haben und unsere Mitglieder und unsere An­hän­ge­r:in­nen wieder mit Stolz erfüllen. Ansonsten kann man sich gute Wahlergebnisse in die Haare schmieren.

Hat die Linkspartei nur ein Performanceproblem?

Zumindest ist ganz offensichtlich, dass sich das öffentliche Erscheinungsbild ändern muss. Wenn in allen großen gesellschaftlichen Konflikten der letzten Jahre – von der Diskussion über Flucht und Migration über die Auseinandersetzung mit dem menschengemachten Klimawandel bis hin zum Umgang mit der Corona-Pandemie – zielsicher stets zwei gegensätzliche Antworten aus der Partei zu vernehmen waren, dann hat uns das geschwächt.

Das heißt, wir müssen wieder geschlossener agieren. Der Wille zum gemeinsamen Handeln muss wieder erkennbar werden. Das wird eine der zentralen Aufgaben der neuen Parteiführung und damit auch des Bundesgeschäftsführers sein.

Sie wünschen Sich eine Partei, die brav ihren Füh­re­r:in­nen folgt?

Keineswegs. Die Zeiten, in denen Linke so etwas für links hielten, sind glücklicherweise lange vorbei. Es braucht eine starke linke Mitgliederpartei mit einer breiten Verankerung sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Ohne das geht es nicht. Aber es braucht auch Personen, die populär die Inhalte der Partei vertreten.

Sie werden also im Falle Ihrer Wahl Sahra Wagenknecht in jede Talkshow begleiten und aufpassen, dass sie kein komisches Zeugs erzählt?

Nein, sicher nicht. Aber zum einen glaube ich schon, dass wir eine gestärkte Parteiführung brauchen, die als Team agiert. Zum anderen sage ich es mal so: Alle Teile der Partei, auch die vorderen und bekannten Gesichter, müssen sich bewusst sein, dass auch sie gescheitert sind, wenn das Projekt jetzt scheitert. Womit wirklich Schluss sein muss, das ist, dass sich die eigene Partei in der Öffentlichkeit schlecht redet. Das muss jetzt aufhören.

Wie soll das gelingen? In keiner anderen Partei beschimpfen sich die Mitglieder untereinander so leidenschaftlich wie in der Linken.

Es stimmt leider, dass es um die politische Kultur in der Linken auf Bundesebene schlecht bestellt ist. Das müssen wir dringend ändern, weil die Form, wie wir all zu oft miteinander umgehen, destruktiv ist und zu Recht als abschreckend empfunden wird. Ich halte es jedoch für eine absolute Illusion und auch nicht für erstrebenswert, dass eine linke Partei aufhört, miteinander zu streiten. Aber wir müssen wieder lernen, um die Sache zu streiten – und zwar respektvoll, ohne gleich die Integrität des Gegenübers infrage zu stellen.

Wäre es nicht vielleicht an der Zeit, einen Bruch zu machen, also zu sagen: Okay, die Konstruktiven in den verschiedenen Flügeln versuchen gemeinsam die Partei zu retten – und die Destruktiven, die nicht mitziehen wollen, werden herausgedrängt?

Ich sehe, dass große Teile der Partei ein wirkliches Interesse haben, um diese Partei zu ringen. Und ja: Alle, denen es wirklich ernst damit ist, dass es weiter in Deutschland einer vernehmbaren Stimme für soziale Gerechtigkeit, für Frieden und gegen die Klimakatastrophe bedarf, müssen sich jetzt auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen und eng zusammenarbeiten.

Aber das darf nichts daran ändern, dass die Linke eine pluralistische Partei ist. Dass sie das ist, ist eine Lehre aus der nicht gerade immer rühmlichen Geschichte der Linken. Zu dieser Geschichte gehören leider auch das Fraktionsverbot in den kommunistischen Parteien und politische Säuberungen. Damit haben wir konsequent gebrochen. Das heißt aber auch: Wenn bei uns jemand geht, dann geht er freiwillig. Was ich will, ist eine Erneuerung der Partei. Das ist mein Ziel – und daran will ich mich messen lassen.

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