Der überfällige Ausschuss

Am Donnerstag nimmt der Untersuchungsausschuss zu rechten Anschlägen in Neukölln seine Arbeit auf. Betroffene fordern Antworten – und ziehen Parallelen zum NSU

Auch linke Kiezläden in Neukölln wurden angegriffen, hier der Allende-Kiezladen 2010 Foto: Sonja Trabandt

Von Gareth Joswig

13 Kartons voller Akten allein aus den Jahren 2016 bis 2019 haben sich bei der Justiz zur rechtsextremen Neuköllner Terror­serie angesammelt. Mit der Zulassung der Anklage gegen die beiden hauptverdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P. durch das Amtsgericht Tiergarten in dieser Woche ist die juristische Aufarbeitung endlich einen entscheidenden Schritt weiter. Parallel dazu beginnt nun auch die politische Aufarbeitung des Neuköllln-Komplexes.

An diesem Donnerstag konstituiert sich der parlamentarischer Untersuchungsausschuss Neukölln. Die 13 Abgeordneten um den Vorsitzenden Florian Dörstelmann (SPD) werden über die Sommerpause einige Unterlagen zu wälzen haben, denn sie haben sich mit einem ambitionierten Fragenkatalog einiges vorgenommen. Die Abgeordneten wollen das Behördenversagen im Zusammenhang mit der „rechtsextremistischen Straftatenserie im Zeitraum von 2009 bis 2021 in Neukölln“ – so der offizielle Ausschusstitel – beleuchten und sich mit möglichen rechten Netzwerken in den Behörden, aber auch Ermittlungsfehlern und langfristigen Entwicklungen in der rechten Szene beschäftigen und nach Verbindungen bis ins NSU-Umfeld fragen.

Verdächtige Seit vielen Jahren kursieren die Namen jener verdächtigen Neonazis, die maßgeblich für die Anschlagsserie verantwortlich sein sollen. Da ist zum einen Sebastian T., einst führender Kader vom Nationalen Widerstand Berlin und Kreisvorsitzender der NPD, inzwischen beim III. Weg aktiv; zum anderen Tilo P., Neonazi und zeitweises Mitglied im AfD-Bezirksvorstand Neukölln. Trotz der öffentlichen Beschuldigungen gingen die Anschläge im Bezirk immer weiter, die Justiz schien machtlos.

Prozess Der Durchbruch kam am Dienstag. Das Amtsgericht Tiergarten hat die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft gegen Sebastian T. und Tilo P., zugelassen. Die beiden müssen sich vor allem für die Brandstiftungen an den Autos von Ferat Kocak und Heinz Ostermann verantworten. T. hatte in U-Haft zu einem anderen Gefangenen gesagt, bei dem Anschlag auf Kocak „nur Schmiere“ gestanden zu haben. Der Prozess mit 90 Zeugen soll im August starten, zehn Prozesstage sind angesetzt. (epe)

Nicht von ungefähr sagen einige Betroffene, dass die schon lange von ihnen geforderte Aufklärung im Grunde der NSU-Untersuchungsausschuss ist, den es nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios 2011 dringend gebraucht hätte. Denn bereits damals hätte es angesichts regionaler Neonazi-Aktivitäten genügend Anlass gegeben, mit parlamentarischen Mitteln rechte Strukturen zu durchleuchten, überregionale Vernetzungen der lokalen Neonazi-Szene anzuschauen und sich mit Verstrickungen und möglichen Fehlstellungen von Behörden im Zusammenhang mit Rechtsextremismus zu beschäftigen – und in diesem Zusammenhang immer wieder der Rolle des Verfassungsschutzes.

Und so tauchen nun im Untersuchungsausschuss wieder die Namen der rechtsextremen Organisationen und Netzwerke auf, die bis heute in Berlin fortwirken: Freie Kräfte Neukölln, Nationaler Widerstand Berlin, NPD Neukölln. Mit Blick auf die jüngeren Ereignisse in Neukölln lassen sich ergänzen: AfD und III. Weg. Und es gibt sogar sehr lange deutliche Hinweise auf überregionale Überschneidungen der Szenen: Ein späterer NSU-Unterstützer und enttarnter V-Mann „Piatto“ aus Neukölln, Carsten Szepanski, zündete bereits 1991 einen Bus der Neuköllner sozialistischen Jugendorganisation Die Falken an. Die Neuköllner Nazi-Netzwerke sammelten über Jahrzehnte Daten ihrer politischen Feinde, übten neben lokalem rassistischem Alltagsterror Anschläge und Sachbeschädigungen aus. Es ist kein Zufall, dass viele in dem Brandanschlag auf das Jugendhaus der Falken 2011 den Anfangspunkt der Neonazi-Anschlagsserie sehen.

Es lässt sich der Bogen spannen bis zu Morddrohungen an die Linken-Fraktionsvorsitzende Anne Helm, die 2020 mit der Unterschrift „NSU 2.0“ unterschrieben war. Heute sitzt Helm für die Linke auch im Untersuchungsausschuss. Neonazis erstellten Bewegungsprofile von ihr, klauten ihre Post, sprengten ihren Briefkasten. Engagierten in Neukölln wurden die Autos angezündet, Scheiben eingeschmissen, Todesdrohungen an Hauswände gesprüht sowie die Kinder und Familien von Betroffenen bedroht. Der Mord an Burak Bektaş, der in der Tatbegehung teilweise an die NSU-Morde erinnert, ist ebenso unaufgeklärt wie zahlreiche andere rechtsextreme Straftaten in Neukölln. Und wenn wieder wie jüngst Autos in der Neuköllner Hufseisensiedlung brennen, weckt das bei Opfern meist böse Erinnerungen. Es gibt Betroffene, die es nicht mehr aushielten und weggezogen sind – auch weil die Sicherheitsbehörde durch Nichtaufklärung versagten.

Es ist im Grunde der Untersuchungsausschuss, den es nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios 2011 dringend gebraucht hätte

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Denn es gib ein Grundrauschen an offenen Fragen, die den Verdacht eines rechten Netzwerks in den Behörden füttern: Polizist, AfD-Mitglied und Anwohner Detlef M., der sich mit einem Hauptverdächtigen per Mail und Telegram-Gruppe austauschte und mit weiteren Po­li­zis­t*in­nen in einer rechten Chatgruppe unter anderem rassistische Inhalte teilte. Der ehemals mit dem Neukölln-Komplex befasste Ermittler Stefan K., der zusammen mit zwei Neonazis aus rassistischen Motiven einen Afghanen in Karlshorst zusammenschlug und früher „Ansprechpartner“ für Betroffene in der Soko Rechtsextremismus war. Der Oberstaatsanwalt F. und Staatsanwalt S., die wegen Verdachts auf AfD-Nähe vom Fall abgezogen und in andere Abteilungen versetzt wurden. Der LKA-Beamte Pit W., der sich mit einem der Hauptverdächtigen in einer Kneipe getroffen haben soll.

Was der Neukölln-Komplex aber auch ist: Vernetzung und Widerstand gegen die extreme Rechte. Während die Neonazis ihre Anschläge heimlich im Dunkeln begehen, solidarisieren sich Betroffene und Engagierte in Vereinen und auf der Straße. Sie verlegen zerstörte und gestohlene Stolpersteine neu, demonstrieren seit über drei Jahren fast jeden Donnerstag vor dem LKA Berlin für Aufklärung. Sie organisieren ein jährliches Erich-Mühsam-Stadtteilfest, engagierten sich wie selbstverständlich für Geflüchtete. Und sie demonstrieren trotz Bedrohungen immer wieder gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck.