Bedrohliche Wellen

Der Animationsfilm „Die Odyssee“ der französischen Illustratorin Florence Miailhe findet für die Themen Flucht und Migration eine universelle Geschichte

„Die Odyssee“ Foto: Grandfilm

Von Fabian Tietke

Verängstigt kauern die Geschwister Kyo­na und Adriel auf einer Bank im Heck des kleinen Boots, während links und rechts das Wasser spritzt. Die Animation von Florence Miailhes Film „Die Odyssee“ (im Original weniger mythologisch: „La Traversée“, die Überfahrt) wechselt zwischen dem Meer aus blauweiß wogenden breiten Pinselstrichen und dem Boot mit den beiden Passagieren. Eine Welle füllt schließlich das Bild von rechts nach links mit monochromem dunklem Blau und beendet die Szene.

„Die Odyssee“ erzählt die Geschichte einer Flucht. Lange bevor Kyona und Adriel es aufs Meer geschafft haben, sind sie mit ihren Eltern und den übrigen Geschwistern vor Überfällen aus einem Dorf geflohen. Auf der Zugfahrt Richtung Grenze wurden die beiden von ihren Eltern und den Geschwistern getrennt. Eine Weile warten sie in der fiktiven Stadt Stemestvar in der Nähe des Bahnhofs auf ihre Eltern, dann schließen sie sich einer Kolonie von Straßenkindern an. Die meisten von ihnen sind wie sie elternlos in der Stadt gestrandet. Entlang des Skizzenbuchs von Kyona erzählt der Film die Geschichte der Flucht. Gegen alle Widrigkeiten bleiben die Geschwister beieinander, durchleben gemeinsam Verluste und Rückschläge.

In einer Reihe von kurzen Animationsfilmen hat sich die französische Illustratorin Florence Miailhe seit Anfang der 1990er Jahre durch verschiedene Techniken eine malerischer Animation erarbeitet, die sie auch in „Die Odyssee“ fortführt. Jene Vagheit, die die Kombination „erfundener“ Bilder und der im Vergleich zu nichtanimierten Filmen geringeren Anzahl von Einstellungen mit sich bringt, nutzt die 66-jährige Regisseurin, um der Geschichte der Flucht etwas Universelles zu geben. Doch anders als viele andere Filme, die sich auf dem Weg poetischer Universalität in die Belanglosigkeit verlaufen haben, hält Miailhe den Film in der Balance zwischen konkreter Flucht und Verallgemeinerbarkeit.

Diese Balance gelingt nicht zuletzt wegen einer Handvoll Szenen wie jener der Überfahrt, in der Erfahrungen von Fluchtrouten in und nach Euro­pa verdichtet und in Bilder übersetzt werden. Die Bedrohlichkeit des Meers auf der Überfahrt und in einer späteren Szene das zaghafte Gefühl von zumindest temporärer Sicherheit und Freiheit beim ersten Auftritt von Kyona und ­Adriel mit einer Zirkustruppe, bei der sie Zuflucht gefunden haben.

In der Animation bündelt „Die Odyssee“ die jahrzehntelangen Erfahrungen Miailhes mit denen jüngerer Kolleg_innen. Liest man die Liste der Filmemacherinnen, die an der Animation des Films mitgewirkt haben, entfaltet sich ein Teil des Kosmos des aktuellen (kurzen) Animationsfilms in den drei Produktionsländern.

Ewa Łuczkows Stop-Motion-Animationen wie „Moth“ entwerfen Fantasiewelten der Flucht aus einem feindlichen Alltag. Aline Helmcke, deren Animationen oft flächige Strukturen aufgreifen, hat diese Formsprache in einem Auftragswerk zum Beethovenjahr zu großer Form auflaufen lassen. Urte Zintler hat 2016 mit „Leerstelle“, der aus animierten Linienzeichnungen vor weißem Hintergrund besteht, einen poetischen Film über Verlust und Veränderungen realisiert. Aurore Peuffier und Marta Szymańska verwenden in ihren Filmen Techniken, die näher an der Malerei und dem Aussehen von „Die Odyssee“ sind. Peuffier hat 2016 die Tierfabel „Du plomb dans la tête“ (Lead in the head) realisiert, Szymańska 2018 den Tangofilm „Tango Tęsknot“ (Tango of Longing).

Florence Miailhes Film erzählt von zeitenübergreifender Migration. Im Abspann von „Die Odyssee“ widmet die Regisseurin den Film ihrer Mutter, der Malerin Mireille Glodek Miailhe, und ihrer Großmutter, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit zehn Kindern vor antisemitischen Pogromen aus Odessa geflohen ist. Miailhes Film betont die Ähnlichkeiten, die Gemeinsamkeiten in ihrem Blick auf Migration und Flucht. Das macht „Die Odyssee“ zu einem Film, der politisch niemandem wehtut, dafür aber ästhetisch gelungen und mit großer Empathie eine zutiefst humane Geschichte erzählt.

„Die Odyssee“. Regie: Florence Miailhe. Frankreich/Deutschland/Tschechien 2021, 84 Min.