Ein Wohnsitz, keine Heimat

Im abschließenden Teil seiner Trilogie über seine Familie beschreibt Rafael Seligmann das Leben als jüdische Rückkehrer in München

Rafael Seligmann: „Rafi, ­Judenbub“. Verlag Langen Müller, München 2022, 390 Seiten, 25 Euro

Von Klaus Hillenbrand

Es schmerzt auf fast jeder Seite. Wenn Rafael Seligmann berichtet, mit welch antisemitischen Tiraden vom „intelligenten Juden“ er in seiner neuen Schule konfrontiert wird. Wenn der Vater versucht, in seinem Heimatort an vergangene Zeiten vor Krieg und Holocaust anzuknüpfen, und dabei an seiner Umgebung scheitert. Man möchte sich entschuldigen für all die Tiraden, Vorurteile, für diese judenfeindliche deutsche Miefigkeit, die die Familie Seligmann erfährt, als sie sich 1957 zur Rückkehr aus Israel in das Land entschließt, das eigentlich ihre Heimat ist: Deutschland.

In München, so hofft der Vater, könne man einen wirtschaftliche Neuanfang in einem neuen, geläuterten Staat wagen, der vom Wirtschaftswunder verwöhnt wird. Sein Optimismus wird nicht belohnt.

Zwangsläufig Außenseiter

Dies sei ein Roman, steht auf dem Schutzumschlag von Seligmanns Buch, mit dem er seine Trilogie über die eigene Familie beendet. Da bestehen gewisse Zweifel. Eine Autobiografie ist es aber gewiss auch nicht, denn der Autor wechselt die Rollen des Erzählenden zwischen dem jungen, bei der Einwanderung zehnjährigen Rafael, seinem Vater und der widerstrebenden Mutter. Dieses Buch ist wohl beides, und es ist so glänzend erzählt, dass man es in einem Rutsch durchlesen möchte, obwohl es Bedrückung auslöst. „Lauf, Ludwig, lauf“ sowie „Hannah und Ludwig“ heißen die ersten beiden Bände der Trilogie.

Der Titel „Rafi, Judenbub“ leitet sich nicht etwa aus einem stolzen Bekenntnis zur eigenen Religion oder Herkunft ab. Er kennzeichnet die negativen Zuschreibungen der christlich-deutschen Außenwelt am neuen Wohnort München, die sie dem Heranwachsenden angedeihen lässt. Die Rückkehr der Seligmanns wird weder als etwas Bereicherndes erkannt noch als ein völlig normaler Vorgang. Die Familie erhält qua ihrem religiösen Bekenntnis einen gesellschaftlichen Sonderstatus. Sie sind diejenigen, die die christlichen Deutschen an die Verbrechen im NS-Staat erinnern. So werden sie zwangsläufig zu Außenseitern, meist gemieden, selten umschmeichelt.

Vater Ludwig will das nicht wahrhaben und endlich wieder als Verkäufer arbeiten. Er wird betrogen und scheitert. Schließlich erhält er eine Stelle bei einem jüdischen Münchner Unternehmen, wo er wortwörtlich bis zum Umfallen tätig ist – er erleidet einen Herzinfarkt. Der Sohn Rafael verweigert sich den ihm feindlich gesinnten Lehrern und flüchtet in eine Traumwelt. Mutter Hannah, die schon mit großer Skepsis nach Deutschland zurückgekehrt ist, sieht ihr Urteil über die Deutschen bestätigt und lehnt Beziehungen zu nichtjüdischen Deutschen ab. Und so kriecht die Familie in einen Kokon.

Man lebt und arbeitet zwar mitten in München, doch bleiben die Außenkontakte auf wenige Nichtjuden reduziert. Die Angst vor diesen Deutschen kehrt zurück. Die Stadt wird für die Seligmanns zwar zum Wohnsitz, aber nicht zur Heimat.

Seligmanns „Rafi, Judenbub“ ist mehr als ein Familienroman. Das Buch vermittelt ein Sittenbild bundesdeutscher Nachkriegszeit mit all seinen Vorurteilen und gepaart mit dem unbedingten Wunsch seiner Bewohner, keinesfalls zurückzublicken auf das, was sie wenige Jahre zuvor angerichtet hatten. Dieses Bild wird den meisten Deutschen verschlossen geblieben sein, weil sie eben nicht der winzigen jüdischen Minderheit angehörten und sich auch nicht weiter für diese interessierten. Die nachfolgenden Generationen haben von diesem Sittenbild auch niemals etwas erfahren, denn es gibt niemanden, der ihnen davon erzählen kann.

Seligmanns Roman lässt den Leser an dem ganzen Elend, unter dem die Rückkehrer aus Israel und die davongekommenen Opfer in der Bundesrepublik leiden müssen, teilnehmen. Es ist kein Spaß, das zu lesen. Aber es ist unbedingt lesenswert.