Geschichte aus dem Kleiderschrank

Gewebte Emanzipation: Anhand der Lebensläufe von sieben Frauen erzählt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe Mode-, aber auch sonstige Geschichte

Zeugnisse eines allzu kurzen Lebens: Tageskleider von Erika Holst aus den Jahren 1938–42 Foto: Anne Schönharting/Ostkreuz

Von Niklas Berger

Die Ambivalenz von Nützlichem und Schönem wird durch wenig so sehr verkörpert wie durch Kleidung. Sie ist schützende Hülle für das Persönlichste und zugleich Nachricht ans Umgebende. Die zumeist stumme Visitenkarte des Selbst provoziert, separiert, kann allein Mittel zum Zweck sein. Aber sie wird dabei immer auch kommunizieren, Geschichten erzählen. Diese kommunikative Kraft des ineinander gewebten Garns – und von allerlei anderen Materialien auch – stellt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe MKG aus anhand von sieben Lebenslinien. Von 1824 bis ins Jahr 2020 reichen die Exponate in der Ausstellung „Dressed“, macht knapp 200 Jahre Modegeschichte, erzählt anhand der Kleiderschränke von sieben realen Hamburger Frauen.

Vieles des Gezeigten stammt aus der museumseigenen Sammlung Mode und Textil, einiges kommt von weltbekannten Designer:innen. Ergänzt werden die Stücke durch biografische Einblicke, Bilder, Dokumente. Geschickt: Überall in der Ausstellung sind deckenhohe Spiegel angebracht. So werden die Besucher:innen auch sensibilisiert für die Mode am eigenen Leib, ja: Sie selbst werden zum wandelnden Exponat.

Ganz klassisch fest installiert sind dagegen das Hochzeitskleid und die Accessoires von Elise Fränckel: Die Frau eines Senators in der norddeutschen Provinz trug trotz ihres ländlichen Lebens im 19. Jahrhundert Kleidung aus internationalen Schneidereien.

Oder die Garderobe Edith von Maltzans: Die wuchs in den 1890er-Jahren in einer reichen, privilegierten Familie auf. Der Bruch von frohen Farben und ausgefallenen Kleidern zu tiefstem Schwarz nach dem Tod ihres Mannes ist exemplarisch für die Beziehung zwischen persönlichen und modischen Biografien.

Wertvolle Schweißflecken

Das kurze Leben der 1917 geborenen Erika Holst ist gezeichnet vom Nationalsozialismus. So tragen auch ihre erhaltenen Kleidungsstücke Spuren des Krieges – und der Tuberkuloseerkrankung, an der sie 1946 verstarb. Die Zeichen der Zeit, die sich tief in die Fasern des Stoffes eingegraben haben, die reparierten Stellen, Schweißflecken oder Risse hat das Museum als wertvolle Elemente ihrer Geschichte nicht zu verstecken versucht.

In den Biografien spiegeln sich Emanzipation und der Wandel (nicht nur) von Mode

Im heutigen Hamburg nicht unbekannt ist Elke Dröscher. Die Galeristin und Betreiberin des Puppenmuseums Falkenstein trug nahezu 20 Jahre lang fast ausschließlich Kleidung von Yves Saint Laurent, einem Vorreiter des Prêt-à-porter, der Mode in Konfektionsgrößen. Mit der Kreation des Hosenanzugs hatte Saint Laurent auch seinen Anteil an der Emanzipationsbewegung der 60er- und 70er-Jahre. Die Sammlung Dröscher anzusehen vermittelt nun fast das Gefühl, selbst im Geschäft in bester Lage am Hamburger Jungfernstieg zu stehen – nur auf Beratung (oder ein Getränk) wartet man im Museum vergebens.

Ein Rock aus Bierdosen

Konträr zum gehobenen Stil der Galeristin findet sich einige Schritte weiter echter Individualismus: Ines Ortner entwarf und fertigte ihre Outfits selbst; unter dem Nom de guerre „Rapunzel“ ist sie im Hamburger Punk und Theater in den 1980er-Jahren bekannt geworden. Ein Minirock, der von Weitem noch wie ein Kettenhemd anmutet, entpuppt sich aus der Nähe als zusammengesetzt aus Bierdosen-Aufrisslaschen. Ortners Kleidung widerstrebt der Ästhetik des Establishments, sucht die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Normen – dass sie genau damit Mainstream-Trends inspiriert haben könnte, gehört zum besonderen Charakter der Mode. .

Weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war die Modejournalistin Angelica Blechschmidt: Sie leitete als Chefredakteurin die Modezeitschrift Vogue. Weniger ihre schwarzen Cocktailkleider sind es, die nun im Museum ins Auge fallen, als die ausgefallenen Accessoires mit denen die 1941 Geborene Aufmerksamkeit erregte – zum Beispiel eine transparente Handtasche.

Zum Ende der Ausstellung hin leiten Kleider von Anne Lühn aus den Jahren 1985 bis 2020 zurück ins Hier und Jetzt. Die Stücke, die überwiegend von japanischen De­si­gne­r:in­nen stammen, verkörpern eine Gegenposition zum stark die Körper Normierenden der Modeindustrie: eine inklusive Kleidungskultur, in der weder der Körper noch das Alter Determinanten des Ästhetischen sind.

Punk und Theater: Ines Ortner bei einem Auftritt in den 90ern Foto: Alfred Zimmel

„Dressed“ erzählt in Baumwolle, Seide oder Leder gearbeitete Geschichte der Mode selbst, aber auch der Frauen und ihrer Schicksale. „Die Erzählung“, so MKG-Direktorin Tulga Beyerle, „geht aber auch darüber hinaus und behandelt ein bis heute relevantes Thema: Die sich verändernde Rolle der Frau in der Gesellschaft.“ Dafür hat das Museum die Protagonistinnen möglichst vielfältig ausgewählt, nicht bloß nach Prominenz.

Diese Vielfalt hat Grenzen: Wie sich etwa eine arme Frau kleidet, kleiden kann: Das sucht man hier vergebens. Um ausgestellt zu werden, muss Kleidung eines von zwei Kriterien erfüllen, scheint es: Sie muss teuer gewesen sein oder aber unkonventionell wie die von Ines Ortner. Damit offenbart sich in der Ausstellung auch der trotz allem exklusive Charakter von modisch definierter Kleidung. Wem es an Geld beziehungsweise Zeit und/oder Talent fehlt, dem ist eine Repräsentation der eigenen Geschichte unerreichbar – zumindest in dieser Ausstellung.

Was an „Dressed“ dennoch überzeugt: Den schmalen Grat, Mode mit einer auf Frauen begrenzte Ausstellung als genuin feminines Thema zu definieren, haben die Kuratorinnen – beteiligt war auch Angelika Riley, Leiterin der Sammlung Mode und Textil – bestens gemeistert. In den Biografien spiegeln sich Emanzipation, die Gestaltbarkeit weiblicher Lebensentwürfe und der Wandel (nicht nur) von Mode. Und nach Lühns Garderobe ganz zum Schluss, also einer Abkehr vom Bild weiblicher Mode als Rahmung allzuoft sexualisierter Körpervorstellungen, verlässt man das Museum zufriedener, als dass man es betrat.

Dressed – 7 Frauen – 200 Jahre Mode: bis 28. 8., Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe