Aufbruch im Krieg

Seit Putin in die Ukraine einmarschierte, haben die Ampel-Parteien sich von einigen Glaubenssätzen verabschiedet. Doch das zentrale Projekt der Regierung soll nun noch schneller verwirklicht werden als geplant: die Energiewende

Berlin, 27. Februar: Friedensdemo in Blau-Gelb Foto: Stefan Boness

Von Malte Kreutzfeldt
und Stefan Reinecke

Zu den Neuheiten im Ampel-Regierungsgeschäft gehört die offene Runde vor der Kabinettssitzung am Mittwoch. Ohne Tagesordnung. Das klingt nach entspanntem Plaudern. Es ist aber ein strikt geregeltes Arrangement. Niemand darf sich von StaatssekretärInnen vertreten lassen. Das Ziel: Störgeräusche in der ungewohnten Dreierkonstellation zu dämpfen.

Eine SPD-Ministerin ist davon angetan. Man räume so Konflikte im Vorfeld ab. Überhaupt, so der Dreh von SPD-Seite, laufe es in der Ampel viel besser als mit der Union. Keine Eifersüchteleien und Kleinkriege mehr wie bei Julia Klöckner und Andreas Scheuer. Man gönne sich gegenseitig Erfolge. Das ist auch von Grünen zu hören. Die offene Runde war die Idee des Kanzlers, die er aus Hamburg mitbrachte. Effektivität und Planung, nett verpackt, mit Scholz in der Rolle des großen Kommunikators, so das Bild.

Das Herzstück der Ampel soll der klimaneutrale Umbau der Industrie werden, das erfordert zielstrebiges Regieren. Also – nichts dem Zufall überlassen, zentral gesteuert. Das ist die Theorie. In der Praxis mit Corona und Putins Krieg ist vieles anders. „Man sieht an diesen ersten 100 Tagen, dass man sein Schicksal nicht selbst in der Hand hat“, sagt Sven Giegold, Attac-Mitgründer und lange Europa-Abgeordneter. Jetzt ist der Grüne Staatssekretär bei Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Die Grünen mussten nun darüber nachdenken, ob Atomkraftwerke und Kohle länger laufen sollen. Die Ampel macht im Schnellverfahren 100 Milliarden Euro Schulden für Aufrüstung und fixiert das im Grundgesetz. Nichts davon wäre Weihnachten vorstellbar gewesen. „Es waren die intensivsten ersten hundert Tage, die ich je erlebt habe“, sagt Katja Mast, die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion. Solche Superlative hört man aus allen drei Fraktionen.

Olaf Scholz hielt sich lange zurück. CSU-Mann Markus Söder höhnte: „Die entscheidende K-Frage derzeit ist: Wo ist der Kanzler?“ Wenn der mal öffentlich auftrat, redete er so leise, dass man ihn kaum verstand. Das kann eine Machtdemonstration sein: der Chef, der die anderen zum Schweigen bringt. Bei Scholz wirkte es eher verhuscht. Einmal musste er in einem Interview klarstellen: „Ich bin jetzt der Bundeskanzler.“

Scholz‘ Berater sehen diese zurückhaltende Performance anders. Der Kanzler wisse, wie Dreierbündnisse funktionieren, und lasse auch andere glänzen. Nicht als Demutsgeste, sondern als Machttechnik, um das Bündnis zu stabilisieren. So ist nach 100 Tagen Scholz’Führungsstil zu erkennen. In Deutschland schraubt der Kanzler oft an Satzgebilden, die mehr verhüllen als ausdrücken. Im Ausland ist das anders. Bei CNN im Interview und bei der Pressekonferenz mit Putin war der Kanzler präzise, wach, schlagfertig.

Im Normalmodus scheint er unauffällig bis zur Unsichtbarkeit, doch bei Entscheidungen ist er präsent. Bei der Impfpflicht hebelte er mit einem Satz den Fraktionszwang aus und setzte die Debatte damit auf ein neues Gleis – auch wenn unklar ist, ob sich das nicht als Abstellgleis entpuppt. Die Neuausrichtung der Außenpolitik mit Waffenlieferungen, Aufrüstung, Sanktionen beschloss Scholz in kleinem Kreis in 48 Stunden. Top down.

Die Nachtseite des Ampel-Stils war am Donnerstag im Bundestag zu besichtigen. Der ukrainischen Präsident Wolodimir Selenski überbrachte per Videobotschaft bittere, emotionale Vorwürfe nach Berlin. Scholz saß versteinert auf der Regierungsbank. Die Ampel-Fraktionen wollten danach keine Debatte zulassen. Union und Linksfraktion empörten sich zu Recht über diese wurschtige Art. Die Ampel drohe, „schon nach 100 Tagen so arrogant zu sein wie andere nach 16 Jahren“, sagte Linksparteimann Jan Korte.

Das Auf und Ab im politischen Betrieb kennt vielleicht niemand so gut wie Annalena Baerbock. Vor zehn Monaten war sie der aufstrebende Star, dann nach aufgehübschtem Lebenslauf und Buch das trübe Gesicht des Scheiterns des grünen ­Hypes. Als sie Außenministerin wurde, bespöttelten manche ihr Englisch. Sie sei überschätzt. Im Sommer wirkte sie im Wahlkampf manchmal fahrig. Das ist wie weggeblasen. Bei dem russischen Außenminister Lawrow und vor der UN-Vollversammlung wirkte sie selbstsicher und ist nun die beliebteste Ministerin in Deutschland. Das Amt macht die Frau.

Am Freitag skizzierte Baerbock in einer Grundsatzrede die Richtung. Man brauche eine „Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie“ und eine „glaubhafte nukleare Abschreckung der Nato“. Von nun müsse man Handel und Infrastruktur mit Außen- und Sicherheitspolitik zusammen denken – das habe die Energieabhängigkeit von Russland gezeigt.

Baerbock verkörpert auch, was diese Ampel zusammenhält. Es ist das Prinzip kill your darlings. So ist die Grüne skeptisch bei der Forderung, gar kein Gas, Öl und Kohle mehr aus dem Osten zu kaufen, um das Putin-Regime finanziell noch mehr unter Druck zu setzen. „Wenn wir das machen, müssen wir das auch durchhalten können“, sagt sie. Niemand wisse, was in einem Jahr los sei. Eine globale Rezession? Eine noch größere Flüchtlingskrise? Hungersnöte? Ein kollabierendes Russland? Und dann auch noch eine Energiekrise in Deutschland? In diesem Nebel ist es nicht klug, zu schnell zusätzliche Risiken einzugehen.

Viel Verantwortungsethik, wenig Gesinnungs­ethik. Dafür steht nun Baerbock – noch eine Wendung, die vor ein paar Wochen niemand auf dem Zettel hatte. Auch Habecks Staatssekretär Sven Giegold hält einen Importstopp für Energie aus Russland derzeit für falsch – anders als viele seiner früheren Mitstreiter aus den sozialen Bewegungen, die genau dies in einem offenen Brief gefordert haben. „Ich kann diese Forderung aus der Zivilgesellschaft nachvollziehen“, sagt er, „aber ich finde es richtig, ihr nicht kurzfristig nachzugeben. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Risiken wären gewaltig.“

Die Grünen sind für weitere Gaslieferungen aus Russland. Die SPD nickt eine massive Aufrüstung ab. Die FDP macht Schulden. Kill your darlings.

Mittwochs trifft sich das Kabinett zur offenen Runde – gerade jetzt ist das sehr wichtig

Die Ampel läuft auch wegen der Achse Scholz-Lindner rund. Denn die alten Lager – Rot-Grün und Schwarz-Gelb – gibt es eben doch noch. Beim Gros der Themen, sagt eine Spitzen-Grüne, sei man der SPD näher als den Liberalen. Weil drei nach dem Lehrbuch der Beziehungsdynamik „zwei gegen einen“ heißt, macht Scholz, wenn es wichtig wird, mit Lindner gemeinsame Sache.

So wie nach dem Donnerstag, dem 24. Februar, als die russische Armee die Ukraine überfiel. Scholz legte mit seinem Umfeld, darunter Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, Regierungssprecher Steffen Hebestreit und Staatssekretär Jörg Kukies, den Fahrplan fest. Am Sonntag die Regierungserklärung. Am Freitag kippte das Nein zum begrenzten Ausschluss von Russland aus dem Swift-System und zu Waffenlieferungen an Kiew. Am Samstag reifte der Plan, mit 100 Milliarden Euro die Bundeswehr zu finanzieren. Eingeweiht war FDP-Minister Lindner. Um 22 Uhr 30 am Samstagabend war der Plan fertig.

In einer Mischung aus selbst geschaffenen Zeitnot und Kalkül ließ der Kanzler die eigene Fraktion und auch die grünen MinisterInnen im Unklaren, was er genau vorhatte. Er setzte auf „die normative Kraft des Faktischen“, so ein Scholz-Vertrauter. Der Plan ging auf. Der Protest von SPD-Linken und Grünen verstummte, als klar wurde, dass damit, anders als bei einer Erhöhung des Verteidigungsetats, Geld für Energiewende und soziale Wohnungsbau bleiben.

Eine Bedrohung von außen schweißt zusammen. Interner Zoff tritt zurück, wenn russische Raketen dicht an der polnischen Grenze einschlagen. Hat der Krieg der Ampel vielleicht sogar geholfen?

Auch wenn kurzfristig klimaschädliches Gas durch zum Teil noch klimaschädlichere Kohle ersetzt wird – langfristig wird der Umbau durch Putins Krieg beschleunigt. In Baerbocks neuer außenpolitischer Strategie gilt der Abschied von „fossilen Brennstoffen und schneller hin zu erneuerbaren und effizienten Energien“ als „Investitionen in unsere Sicherheit“. Auch der Deal mit den Ländern um die Beschleunigung der Planungsverfahren werde „jetzt einfacher“, sagt ein Scholz-Mann. „Ich denke, dass die Widerstände deutlich geringer sein werden“, sagt auch Giegold. Denn in der Ampel-Koalition traut sich niemand mehr, Einwände gegen die ambitionierten Ausbaupläne für Wind- und Sonnenkraftwerke vorzubringen: „Erneuerbare Energien sind eine Frage der nationale Sicherheit, diese Erkenntnis ist inzwischen weit verbreitet“, meint Giegold.

Auch in der EU hat der 24. Februar viel verändert, berichtet Giegold am Donnerstag nach einem Treffen der EU-Wirtschaftsminister. „Auch die Osteuropäer, die bisher teilweise zögerlich waren, reden jetzt nur noch von Erneuerbaren und Effizienz.“ Der Westen ist geeinigt, die Spaltung der EU in West und Ost geschwunden. Die Energiewende ist auch sicherheitspolitisch alternativlos. Das ist einer der vielen Effekte von Putins Krieg.