Panzer und Patriarchen

Jette Steckel hat am Thalia Theater Hamburg „Das mangelnde Licht“ nach einem Roman von Nino Haratischwili inszeniert. Es geht um Frauenfreundschaft und gescheiterte Lebensentwürfe im postsowjetischen Georgien

Von Katrin Ullmann

Sie küssen und sie schlagen sich. Sie rauchen, beruhigen sich und brüllen sich wieder an – eine Paarhölle voller Misstrauen und Begehren. Der Kampf von Maja Schöne und Ole Lagerpusch als Dina Pirveli und Rati Kipiani ist untermalt von der Hitparade der Liebe: Meat Loafs „I would do anything for love“ dröhnt laut und, auf dem Höhepunkt der Gewalt, Haddaways „Baby don’t hurt me“. Das ist zynisch und wirkungsvoll.

Jette Steckel inszeniert zum dritten Mal einen Roman von Nino Haratischwili. Es sind ganze Epochen erzählende Bücher, die die gebürtige Georgierin schreibt, verflochten mit der wechselvollen Geschichte ihrer Heimat. „Das achte Leben“, 2017 am Thalia Theater uraufgerührt, ist eine durch alle Revolutionen und Kriege des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ragende Saga. „Die Katze und der General“ schlägt den Bogen von den Tschetschenien-Kriegen über die Welt der Oligarchen ins heutige Berlin. „Das mangelnde Licht“ erschien nun zeitgleich zu seiner fast fünfstündigen Uraufführung am Thalia Theater. Darin geht es um eine Frauenfreundschaft, die in den Hinterhöfen von Tiflis ihren Anfang nimmt.

Gewalt und organisierte Kriminalität sind ständig präsent im Leben von Qeto (Lisa Hagmeister), Dina (Maja Schöne), Nene (Rosa Thormeyer) und Irine (Fritzi Haberlandt). Außerdem: Träume, erste Küsse, Partys, arrangierte Ehen, Drogen, karierte Tischtücher und immer: patriarchale Patriarchen. Die vier Teenager der 1990er Jahre sind überfordert von sich selbst und von einer quecksilbrigen Zeit, in der Georgien seine Unabhängigkeit erlangt. Eine Zeit geprägt von Clan-Strukturen, Kalaschnikows, Panzern und einem Staat, der keine Sicherheit mehr garantiert.

Die Parallelen zur Gegenwart sind da. Explizit werden sie in Steckels Inszenierung nicht. „Die Zeiten schieben sich wie Vorhänge ineinander“, heißt es einmal. Gerahmt werden Roman und Inszenierung von einer Vernissage in Brüssel im Jahre 2019. Eine der Freundinnen (Dina) war Fotografin und Kriegsreporterin geworden. Doch irgendwann hielt sie das Leben nicht mehr aus und brachte sich um.

Für die Erzähl-Retrospektive hat Bühnenbildner Florian Lösche eine schlüssige Übersetzung gefunden. Seine bunt verpixelten Stellwände erzählen von der Unschärfe der Erinnerung. Die zahlreichen dokumentarischen Schnipsel, Nachrichten, Straßenszenen und Regierungserklärungen (Video: Zasa Rusadze), bekommen darauf projiziert die nötige Patina. Klar, dass sich die Wände drehen und zusammenschieben lassen zu Galerien oder Gassen, zu Zimmern oder aufgeklappten Büchern – ein Effekt, der aber schnell leerläuft.

Jette Steckel inszeniert den Roman chronologisch und beflissen realitätstreu. Im Fast-Forward-Modus lässt sie die vier Frauen aufwachsen. Kostümbildnerin Sibylle Wallum steckt sie erst in Polyester-Skianzüge mit baumelnden Fäustlingen, später werden die Röcke kürzer und die Stiefeletten hochhackiger. In kurzen Spielszenen tauchen die zehn Dar­stel­le­r*in­nen ein in das Leben der Figuren, skizzieren die Charaktere, streiten am Küchentisch über Politik. Alles ist ständig in Bewegung: Die Bühne dreht sich, die Wände verschieben sich, die Figuren tanzen, dealen, picknicken, vergewaltigen, schießen oder knattern mit dem Moped. Mark Badur untermalt musikalisch und akustisch nahezu jede Szene. Am ehrlichsten dröhnt aus dieser Atmo-Masse der Generator, mit dem die regelmäßigen Stromausfälle im Land überbrückt werden müssen.

Gelingt Steckel anfangs eine ruhige Annäherung an die Figuren, werden ihre Mittel immer drastischer. Da wird hysterisch geschrien oder plump gegockelt, werden Drohungen stets mit gepresster Stimme ausgesprochen, Unheilsmeldungen extra kühl dargebracht und immerzu Bilder und Videos projiziert. Der Abend erinnert an einen dokumentarischen Dauerlauf voller Reenactements, produziert für Phoenix in der Prime Time. Der Fokus auf die Figuren und das, wofür sie eintreten, geht unter: War es Moral, Freiheit, Treue, Vertrauen, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Rache, Freude, Liebe oder Rausch? Das Ende kommt ohne happy. Und mit „mangelndem (Hinterhof-)Licht“.