: Der Text ist mächtiger als das Leben
In seinem nachgelassenen Roman „Der Leselebenstintensee“ lässt der Schriftsteller Giwi Margwelaschwili Buchpersonen mit ihrem Autor über ihr Schicksal streiten. Das ist zumindest philosophisch interessant
Giwi Margwelaschwili: „Der Leselebenstintensee“. Verbrecher Verlag, Berlin 2021, 384 Seiten, 28 Euro
Von Julia Hubernagel
Man stelle sich vor, jeder Schritt ist vorherbestimmt. Jeder Gedanke, jede Entscheidung, alles ist in die eigene DNA bereits eingeschrieben. Das mag eine gewisse Sicherheit versprechen, doch beginnt man zu ahnen, dass das Schicksal einen frühen Tod bereithält, braucht es schon starkes Gottvertrauen, um nicht dagegen zu revoltieren.
Gut, dass der Schöpfer in Giwi Margwelaschwilis kürzlich erschienenem Roman „Der Leselebenstintensee“ höchstselbst herniederfährt, um mit seinen Menschen zu diskutieren. Die Menschen, das sind jedoch Buchpersonen, und Gott ist bei Margwelaschwili nicht tot, aber auch nur Autor. Dieser Autor will sein Buchpersonal auf eine Wanderung schicken, durchs buchweltliche Gebirge, bis hin zum Leselebenstintensee, aus dem die Buchpersonen angeblich geboren werden. Damit seine Bergsteiger den noch von keiner Buchperson beschrittenen Weg dorthin finden, bietet sich der Autor als Führer an.
Ziemlich verworren, das finden die Buchpersonen auch, und sie fürchten um ihr Leben, das bei einem Misserfolg des Romans ein jähes Ende finden würde. Bergsteiger Karl und sein Gefolge versuchen, den Autor umzustimmen: „Man wird diesen Text als zu verspielt klassifizieren und achselzuckend von sich wegschieben“, so die Befürchtung. „Schon allein die Idee, Alpinisten in das Buchweltgebirge zu schicken, wird jedem Leser zu bizarr anmuten.“ Zu verspielt, zu bizarr – damit haben die Bergsteiger nur allzu recht.
Ein Buchweltbösewicht
Derart langatmig lässt Margwelaschwili seine Leselebenswelt entstehen, dass einem beinahe der Verdacht kommt, die ständigen Wiederholungen seien Absicht, oder dahinter steckt ein Komplott eines Buchweltbösewichts, der dem Roman absichtlich Leserinnen entziehen will. Auch als Karl sich plötzlich im Sanatorium des Thomas Mann’schen „Zauberbergs“ wiederfindet und sich mit dem Chefarzt Behrens in bibliophilosophischen Überlegungen ergeht, hat Letzterer die Antworten derart schnell parat, dass man zu hoffen beginnt, er denke sich das Ganze vielleicht einfach aus.
Schicksal, Religion, der freie Wille – mit alldem sehen sich die philosophisch unerfahrenen Bergsteiger konfrontiert. „Was ist dieses Kapitel anderes als Ausdruck der buchweltmenschlichen Sorge um das In-der-Buchwelt-Sein überhaupt?“, heißt es an einer Stelle – doch auch mit Heidegger kommt man an der Stelle nicht weiter. Margwelaschwili versucht mithilfe eines philosophischen Unterbaus, die wacklige Handlung zu stützen. Die vielen Fantasiewörter und Kompositionen – „Bibliobiologie“, „Leselebensschwindsucht“ – sind zwar als Reminiszenz an den großen Ontologen zu verstehen, lassen im Kontext der beinahe märchenhaften Geschichte aber eher an Michael Endes „satanarchäolügenialkohöllischen“ Wunschpunsch denken.
„Der Leselebenstintensee“ liest sich stellenweise traumhaft; versucht man nach etwas zu greifen, bleibt plötzlich nur noch dünne Luft. Margwelaschwili operiert im sauerstoffarmen Raum, sein unbedingter Wille, philosophische Überlegungen bibliophysisch darzustellen, ja, der Versuch, einzelne Begriffe festzuhalten und die Welt, die sie umgibt, auszuklammern, ruft Erinnerungen an Hegel’sche Warnungen wach. Das Negieren des Leselebenstintensees am Ende des Romans, wonach der See gerade dadurch in seiner Symbolhaftigkeit gestärkt wird, weil die Bergsteiger nicht mehr an seine Existenz glauben, wirkt dabei fast versöhnlich – in Richtung der Leserinnen wie in Richtung Hegels.
So bleibt letztlich bloß zu hoffen, dass die lange, beschwerliche Reise durch das buchweltliche Gebirge zumindest Giwi Margwelaschwili selbst Erkenntnisse erbracht hat. Der 1927 in Berlin geborene Sohn georgischer Eltern hat sich seit Jahrzehnten mit dem Wesen des Autors und seiner Buchpersonen beschäftigt, die Ontotextologie begründet und ist wohl ihr einziger Vertreter geblieben. „Der Text ist immer mächtiger als das Leben“, sagte der 2020 verstorbene Autor und Philosoph 2008 der Frankfurter Rundschau; eine bemerkenswerte Aussage, wenn man bedenkt, wie übel ihm das Leben mitgespielt hat.
Margwelaschwili wurde 1946 mit seinem Vater vom sowjetischen Geheimdienst entführt. Der Vater wurde erschossen, der Sohn in Sachsenhausen interniert und anschließend nach Georgien verschleppt, um dort bei ihm unbekannten Verwandten in einer ihm unbekannten Sprache zu leben. Erst 1987 konnte er nach Deutschland zurückkehren, lebte bis 2011 in Berlin, danach bis zu seinem Tod in Tiflis. Seine literarischen Texte schrieb er stets auf Deutsch.
Auch wenn „Der Leselebenstintensee“ als Roman kaum überzeugt, ja, es schwerfällt, ihn überhaupt als Roman anzunehmen, hat Margwelaschwili doch zumindest eines erreicht: Das Mitgefühl des Lesers mit den Buchpersonen ist geweckt. Fast hofft man sogar, dass „Der Leselebenstintensee“ seine Leserinnen finden wird. Und sei es auch nur, damit Karl und seine Mitstreiter nicht an der Leselebensschwindsucht zugrunde gehen.
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