die dritte meinung
: Europa darf sich nicht zu einem rechtsfreien Raum entwickeln, sagt die Politologin Dorota Dakowska

ist Politologin an der Sciences Po Aix en Provence. Sie hat einen Offenen Brief initiiert, den 120 Wissen­schaftler aus 15 Ländern unter­zeichnetet haben und der auf taz.de in voller Länge zu lesen ist.

(…) Seit September 2021 befinden sich die Flüchtlinge, denen es gelungen ist, über die polnisch-weißrussische Grenze in die EU zu gelangen, in einem gefährlichen, militarisierten Gebiet, zu dem weder Ärzte noch Journalisten oder NGOs Zugang haben. Im Bia­ło­wieża-Wald, einem der letzten verbliebenen Urwälder Europas, sterben Männer, Frauen und Kinder an Unterkühlung, Durst und fehlender medizinischer Versorgung. Die polnischen Grenzschutzbeamten ignorieren ihre Asylanträge und weisen sie systematisch an der belarussischen Grenze zurück. Diese Praxis der Zurückweisung ist selbst in Krisenzeiten verboten. Sie verstoßen gegen (…) rechtliche Instrumente, die die EU und ihre Mitgliedstaaten (…) einhalten müssen.

Einige Familien, die von belarussischen Soldaten gezwungen wurden, die Grenze zu überqueren, wurden mehr als zehnmal zurückgeschickt oder voneinander getrennt (…). Am 19. November forderte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, Zugang für humanitäre Hilfe und internationale Unterstützung ein (…). Die Europäische Kommission reagierte am 1. Dezember 2021, indem sie (…) vorschlug, dass der Rat Dringlichkeitsmaßnahmen beschließt, um die betroffenen EU-Staaten in die Lage zu versetzen, die aktuelle „Krise“ an der polnisch-weißrussischen Grenze zu bewältigen. Anstatt jedoch den grundlegenden Charakter des Asylrechts zu bekräftigen, zielt dieser Vorschlag darauf ab, die polnischen, litauischen und lettischen Behörden zu ermächtigen, das beschleunigte Grenzverfahren auf alle Asylanträge anzuwenden. Auf diese Weise wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Asylanträge der Schutzbedürftigen geprüft werden, noch weiter gesenkt und die Legalisierung von Massenabschiebungen unterstützt. (…) Die Unterstützung der illegalen Maßnahmen autoritärer Regierungen gibt ihnen freie Hand, gesetzlose Zonen auf dem Kontinent zu errichten. Die EU, die auf Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der Grundrechte gegründet wurde, kann diese Grundsätze nicht einfach aufgeben.

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