Ein Netzwerk für den Luchs

Der Naturschutz leidet darunter, dass viele Schutzgebiete zu klein sind, um Arten Wanderungen und genetischen Austausch zu erlauben. In Österreich probiert man es nun mit Trittsteinen und Korridoren

Immerhin noch beliebter als Bär und Wolf: Luchs in einer Fotofalle Foto: ALKA Wildlife

Von Beate Willms

Der eine hat Pinselohren, ein geflecktes Fell und ist die größte Katze Europas. Der andere zeichnet sich durch schwarze Haarbüschel auf den blau schimmernden Fühlern aus und gehört zur Familie der Bockkäfer: Auf den ersten Blick haben Luchs und Alpenbock nicht viel gemeinsam. Aber beide gehören zu den seltensten Tieren der Alpen, beide sind streng geschützt. Und ihre Lebensräume schrumpfen.

Die Gründe dafür sind altbekannt: Klimawandel, aber auch der zunehmende Flächenverbrauch. In der Alpenrepublik Österreich werden durchschnittlich 11,5 Hektar Fläche neu zugebaut oder versiegelt. Zwar verfügt das Land über sechs anerkannte Nationalparks und sogar ein Wildnisgebiet. Aber auch sie verfügen über nicht genug Fläche, damit Arten nicht nur kurzzeitig Lebensraum finden, sondern auch wandern können, um sich genetisch auszutauschen und damit langfristige Überlebenschancen zu haben.

Das will das bundeslandübergreifende Netzwerk Naturwald ändern. Die Idee: vorhandene Biotope über Brücken und Korridore zu verbinden. Neu ist der Gedanke nicht, auch internationale Übereinkommen wie die Berner, die Berliner und die Alpenkonvention setzen bereits auf solche Vernetzungen, und auch in Bayern etwa gibt es ähnliche Bestrebungen.

Wie schwer sie jedoch umzusetzen sind, zeigt das aktuelle Projekt des österreichischen Verbunds ganz konkret. Gestartet hat es der oberösterreichische Nationalpark Kalkalpen in Kooperation mit dem steirischen Nationalpark Gesäuse und dem ursprünglich niederösterreichischen Wildnisgebiet Dürrenstein. Eine deutliche Vergrößerung der Nationalparks selbst steht aktuell nicht zur Debatte. Sie wurden um die Jahrtausendwende – 1997 und 2002 – gegründet und waren damals schon schwer erkämpft. Dass sie überhaupt durchgesetzt werden konnten, verdanken sie, wie fast alle österreichischen Nationalparks, starken Protestbewegungen, die gigantische Wasserkraftprojekte verhindern wollten.

„Dieses Momentum haben wir nicht mehr“, sagt Franz Sieghartsleitner. Er ist Fachbereichskoordinator des Nationalparks Kalkalpen und war damals selbst engagiert. Selbst die im Gründungspapier vorgesehene Erweiterung des oberösterreichischen Parks liegt auf Eis. Immerhin wurde das Unesco-Welterbe Wildnisgebiet Dürrenstein, das den größten zusammenhängenden Urwald im Alpenbogen beherbergt, im Juli auf das steirische Lassingtal ausgedehnt.

Korridore zwischen den Schutzgebieten sollen nun niedrigschwellige Reviere vergrößern und Wandermöglichkeiten für Tiere und Pflanzen schaffen. Doch auch das ist schwieriger, als es klingt – biologisch wie juristisch, und politisch sowieso, denn Naturschutz ist in Österreich Ländersache und das Projekt grenzübergreifend.

Zunächst müsse man sogenannte Trittsteine identifizieren, sagt Erich Weigand, Zoologe im Nationalpark Kalkalpen, kleinere Flächen, die ganz ähnliche Umweltbedingungen wie die zu vernetzenden Schutzgebiete haben und den wandernden Arten als Zwischenstation dienen können. Diese Trittsteine müssen wiederum in Korridore eingebettet werden, über die sich die Arten bewegen können, ohne Siedlungen oder Verkehrsstraßen überwinden zu müssen.

Wie die Lebensräume an den Trittsteinen idealtypisch aussehen sollen, zeigt Sieghartsleitner gemeinsam mit Christoph Nitsch, dem Projektleiter des Netzwerks Naturwald, anhand der Urwaldzone des Kohlergrabens im oberösterreichischen Nationalpark Kalkalpen. Eingeladen zu der Exkursion hat Nationalparks Austria, der Dachverband der österreichischen Nationalparks.

„Prädatoren sind notwendig für das Gleichgewicht im Wald“

Franz Sieghartsleitner, NP Kalkalpen

Die Zone findet sich ganz unspektakulär an einem buchenbewachsenen Steilhang, auf dem diverse Bäume beim Umstürzen Lücken hinterlassen haben. Während sie nun von allen möglichen Moosen, Pilzen und Insekten bevölkert werden, die das Holz zersetzen, wachsen an den lichteren Stellen junge Bäume nach und schließen so den Lebenszyklus des Waldes. „So ein Urwald ist ein Hotspot der Biodi­versität“, sagt Weigand. Viele Arten, wie etwa die Urwaldkäfer, zu denen der Alpenbock gehört, kämen nur hier vor und seien damit ein Anzeiger für von Menschen unberührte Flächen.

Auch wenn nicht alles tatsächlich Urwald, also unberührt ist, beinhaltet der Nationalpark Kalkalpen die größten Reste alter Buchenwälder in den Alpen und eine Vielzahl endemischer Arten. Den einzigen anderen – und zusammenhängenden – Buchenurwald gibt es im kaum 30 Kilometer entfernten Wildnisgebiet Dürrenstein. Knapp acht Kilometer sind es bis zum Nationalpark Gesäuse, der von einem Mischwald aus Fichten, Tannen und Buchen dominiert ist. Dort sind viele Flächen wegen der extrem schroffen Felshänge so unzugänglich, dass sie frei von menschlichen Einflüssen sind. Deshalb finden sich auch hier Populationen des blau-schwarzen Bockkäfers.

Insgesamt knapp 100 potenziell für den Alpenbock passende Einzelflächen zwischen diesen Habitaten haben die Ex­per­t:in­nen des Netzwerks identifiziert, sagt Projektleiter Nitsch. Da auch für andere Arten gesucht wurde, ist insgesamt eine mittlere dreistellige Zahl von interessanten Flächen zusammengekommen. Nur ein Bruchteil davon liegt jedoch auch innerhalb der kürzestmöglichen Verbindungen zwischen den großen Schutzgebieten. Auf diese konzentrieren sich derzeit die weiteren Bemühungen.

Denn mit der wissenschaftlichen Konzeption ist es nicht getan. Die Trittsteinflächen gehören im wesentlichen zwei großen Forstbetrieben, den Steierischen Landesforsten und den Österreichischen Bundesforsten – und diese müssen überzeugt werden, in dem Biotopverbund mitzuarbeiten. Das Netzwerk Naturwald setzt dabei nach österreichischer Tradition auf den sogenannten Vertragsnaturschutz, also ein freiwilliges Zusammenwirken: Gegen eine jährliche Entschädigung oder eine Einmalzahlung verzichten die Forsten darauf, den Wald wirtschaftlich zu nutzen.

Drei Trittsteine hat das Netzwerk auf diese Weise inzwischen gesichert, weitere sind in Arbeit, denn inzwischen hat auch der Bund Interesse bekundet und Fördermittel in Aussicht gestellt. Einer davon liegt im Rutschergraben, der die direkte Achse zwischen den Nationalparks bildet. Er ist rund 40 Hektar groß und zeichnet sich durch steile Hänge aus. Andreas Holzinger ist Direktor der Steiermärkischen Landesforste, denen die Flächen seit 120 Jahren gehören. Er zeigt gerne, wie er hier arbeiten will. „Da vorne“, er zeigt auf eine abgeknickte Fichte. „Da ist ein Borkenkäfernest. Da tun wir nichts, und es passiert auch nichts.“ Denn der Baum wächst etwas abseits, der nächststehende ist eine Lärche. „In die bohrt sich der Käfer nicht.“ Die Idee sei, „den Wald hier so zu führen, dass er irgendwann nicht zu unterscheiden ist vom Nationalpark“, sagt Holzinger. Dafür rechnet er mit einem Zeitraum von 50 bis 60 Jahren. So lange müssten Anzeiger wie der Alpenbockkäfer immer wieder beweisen, dass man auf dem richtigen Weg sei.

Ein bislang noch ungelöstes Problem ist das Wild. Weil hier kaum große Beutegreifer – „Prädatoren“, sagt man in Österreich – leben, kommt der Naturschutz nicht ohne Jagd aus. Zu den heimischen Rehen und Hirschen haben sich Wildschweine gesellt, die aus einem nahen Gehege ausgebüxt sind. „Insgesamt sind hier zu viele Tiere unterwegs“, sagt Holzinger. Deshalb gebe es strikte Zielabschussquoten – bis hier genug Prädatoren leben.

Gilt als Urwaldrelikt: Alpenbockkäfer Foto: imago

Dabei setzt das Projekt in erster Linie auf den Luchs, dessen Wiederansiedlung auch bei den Nationalparkexperten Priorität hat. „Prädatoren sind notwendig für das Gleichgewicht im Wald“, sagt Sieghartsleitner. Bei Wölfen, wo sich vor allem die allein umherstreifenden jungen männlichen Tiere die leichteste Beute suchten und deshalb von vielen Landwirten gehasst würden, und dem Allesfresser Bär sei allerdings „das Konfliktpotenzial in der Region gewaltig“.

Der Luchs werde eher geduldet, er geht Menschen aus dem Weg und jagt außer kleinen Tieren im Schnitt pro Woche ein Reh, dessen Kadaver er liegen lässt, sodass besonders im nahrungsarmen Winter auch andere Arten profitieren.

Der Nationalpark Kalkalpen versucht deshalb, Luchse wiederanzusiedeln. Aber immer noch leben erst sechs Exemplare im Nationalpark, bis zu 25 sollten es aber in der Region sein. Dass noch keine gesicherte Population zustande gekommen ist, ist für Sieghartsleitner ein Zeichen dafür, dass die Lebensbedingungen noch nicht wiederhergestellt sind – und dazu gehört vor allem genug Platz: Die Reviergröße eines Luchses kann schon mal hundert Quadratkilometer betragen.

Um mehr Menschen für den Biotopverbund zu gewinnen, soll beispielsweise der Luchstrail für das Problem sensibilisieren. Ein Wanderweg über 12.000 Höhenmeter und 220 Kilometer, der die Schutzgebiete schon heute auf einem Weg verbindet, der auch für eine so mobile Art durchgängig wäre. Nur Begeisterung löst er aber wohl nicht aus: Während der Exkursion waren die Hinweisschilder an manchen Stellen mutwillig zerstört.