: 19 Punkte fürs Immunsystem
Wenn die Nächte frostig werden, suchen sich Asiatische Marienkäfer einen geschützten Platz. Sie treten dann zu Tausenden an Häusern auf. Die Käferart hat besonders starke Abwehrkräfte, die auch dem Menschen helfen könnten
Von Hanna Gersmann
Noch in den letzten warmen sonnigen Novembertagen, es ist gar nicht lange her, wimmelte es in Rot, Orange und Schwarz. Wer nur kurz das Fenster aufstehen ließ, bekam Besuch. Marienkäfer sammelten sich in Massen, fast wie eine Plage. Warum treten die Tiere zu dieser Jahreszeit so gehäuft auf? Ein Anruf bei Professor Andreas Vilcinskas, Insektenforscher. Und plötzlich steckt man mittendrin in einer Geschichte über Kannibalismus, Medizin und Zukunftsmärkte.
Vilcinskas leitet das Institut für Insektenbiotechnologie an der Uni Gießen und ist gefragt in diesen Tagen. Aus der ganzen Republik meldeten sich Leute bei ihm. Den Sommer haben die Marienkäfer auf den Wiesen und in den Büschen verbracht. Im Herbst, sobald die Nächte frostig werden, suchen sie sich einen Platz zum Überwintern. Er erzählt von einem auch für ihn unerwarteten Rekord: „In der Nähe von Augsburg steht ein Haus, da tummeln sich derzeit 300.000 Marienkäfer – stellen Sie sich das mal vor!“
Andreas Vilcinskas weiß: Das sind keine heimischen Marienkäfer, zu denen auch der Siebenpunkt-Marienkäfer gehört, der als Glücksbringer gilt. Der ist meist allein unterwegs. Es ist der Asiatische Marienkäfer, er trägt eine W-förmige Zeichnung am Kopf, meist hat er 19 Punkte und ist von orangerot bis schwarz gefärbt. Er, der auch Harlekin-Marienkäfer heißt, ist nicht zimperlich im Kampf gegen europäische Verwandte.
Andreas Vilcinskas, Insektenforscher
Viele Marienkäfer sind Kannibalen, sie machen sich über die Eier und Larven von verwandten Arten her. Auch der Asiatische Marienkäfer verzehrt den Nachwuchs der heimischen Arten ohne Probleme. Gehen heimische Arten aber zum Gegenangriff über und vertilgen die Nachkömmlinge des Asiatischen Marienkäfers, dann sterben sie daran.
Rätselhaft fand Vilcinskas das. Er fragte sich: Was macht den Asiatischen Marienkäfer so stark? In den 1950er Jahren wurde die Art nach Europa importiert, lange davor nach Nordamerika, weil er am Tag rund 200 Blattläuse vertilgt, was Gärtnerinnen und Gärtner freut. Längst tummelt er sich auch in Südamerika und Südafrika, und seit dem Ende des Jahrtausends in Deutschland. Anders als die einheimischen Arten bekommt der Asiatische Marienkäfer nicht nur einmal im Jahr Nachwuchs, sondern bis zu dreimal. Aber nicht nur das zeichnet ihn aus.
Vilcinskas ging einer These nach, die zwei US-amerikanische Wissenschaftler aufgestellt hatten: Arten, die eine fremde Welt erobern – die Fachleute sprechen von invasiven Arten – müssen ein besonders gutes Immunsystem haben. Denn in den Gebieten, in die sie vorstoßen, gibt es andere Krankheitserreger als in ihrer alten Welt. Sie müssen sie abwehren können, obwohl sie diese nicht kennen, sich nicht anpassen konnten. Darum untersuchten Vilcinskas und seine Gießener Forscherkollegen das Blut der Asiatischen Marienkäfer, die sogenannte Hämolymphe.
Sie stießen im Blut auf Parasiten, also Bakterien und Pilze, die eigentlich Krankheiten bringen, und zwar auf viele. „Die Hämolymphe war voll davon, das hatte ich zuvor noch nie gesehen.“ Vilcinskas staunte. Die Asiatischen Marienkäfer waren trotz der Parasiten gesund. Offenbar machen ihnen die Bakterien und Pilze nichts aus, sie können sie aber als eine Art tödliche Biowaffe gegen ihre Konkurrenten nutzen. Denn die heimischen Marienkäfer werden durch die Parasiten getötet. Das heißt zugleich: Der Asiatische Marienkäfer selbst muss Abwehrstoffe gegen sie haben. Die entscheidende Frage für die Gießener Forscher: Könnten die auch dem Menschen gegen Krankheitserreger helfen?
Dem gingen sie nach – und fanden antimikrobielle Peptide, kleine Eiweiße, die gegen Bakterien und Pilze wirken. Die hat auch jeder Mensch, der Käfer hat aber so viele verschiedene, wie nie zuvor in einem Organismus gefunden wurden. Einige davon können womöglich Lungenentzündungen heilen. Tests dazu laufen.
„Der Marienkäfer ist eine Naturbibliothek und eine große Chance für die Medikamentenherstellung“, sagt Vilcinskas. Er erweise sich als Glück für ihn und sein Forschungsgebiet – die sogenannte gelbe Biotechnologie. Mit ihr werde untersucht, was sich von der Natur für die Medizin, aber auch für den Pflanzenschutz oder die Industrie lernen lasse, erklärt Vilcinskas. Derzeit baut er in Gießen einen ganzen Bereich „Bioressourcen“ am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie auf. Das Logo: ein Marienkäfer.
Für den Menschen seien die Asiatischen Marienkäfer, die im Herbst in die Wohnungen kämen, um dort zu überwintern, nicht gefährlich, sagt Vilcinskas. Viele saugten sie mit dem Staubsauger auf. Besser sei es, sie vorsichtig hinauszubefördern, etwa mit einem Handfeger. Die Sechsbeiner sammeln sich oft an warmen Hauswänden, die von der Sonne bestrahlt werden, und locken mit Duftstoffen ihre Artgenossen an. So kämen schon mal Tausende zusammen, sagt der Forscher. Wegen der Kälte ist das große Schwirren inzwischen aber vorbei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen