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Was einmal war, bleibt ewig möglich

Der ça ira Verlag will zu Ende bringen, was vom Stroemfeld Verlag begonnen worden war: Die Edition des Gesamtwerks des großen Religionsphilosophen Klaus Heinrich

Großer Gelehrter, großer Redner, unakademischer Habitus: Klaus Heinrich, hier im Jahr 2008 Foto: Christian Thiel

Von Felix Brandner

Mit dem Tod des Religionsphilosophen Klaus Heinrich am 23. November 2020 raschelte es im deutschen Blätterwald ordentlich. Gäbe man ein vorläufiges Resümee der umfangreichen Produktion von Würdigungen und Nachrufen, so ließe sich behaupten: Klaus Heinrich war eine der unbekanntesten intellektuellen Gallionsfiguren der Bundesrepublik.

Angesichts dieser überwältigenden Textproduktion entbehrt es nicht der Ironie, dass Heinrich sich zunächst wenig darum geschert zu haben scheint, ein möglichst wuchtiges Werk zu hinterlassen. Bis zu seinem 50. Geburtstag publizierte er bloß zwei schmale Bände, und auch die monumentale Edition seiner Vorlesungen musste ihm regelrecht abgetrotzt werden: So herrschte ein von Heinrich verhängtes Mittschnittverbot, dem sich die Studierenden heimlich widersetzten.

Und erst im vergangenen Jahr gestattete Heinrich einen Einblick in sein umfangreiches künstlerisches Werk: Tausende von Zeichnungen, die er über die Jahre sammelte und in verschiedenen Kisten im Keller eingemottet hat.

Wer den universitären Betrieb und dessen Aufmerksamkeitsökonomie kennt, wird sich angesichts dieser idiosynkratischen Publikationspraxis über die viel beklagte Unbekanntheit Heinrichs nicht weiter wundern. Publish or perish, so lautet ein gnadenloses Sprichwort.

Nun könnte man sich einerseits über die kleine Heinrich-Renaissance freuen. Aber sie stimmt auch misstrauisch: Weshalb musste man den Tod des Autors abwarten, bis dessen Schriften in der Presselandschaft als „unbedingt lesenswert“ empfohlen werden? Es schleicht sich der böse Verdacht ein, dass erst der Tod des Denkers den Gedanken entschärfen konnte. Die Aufnahme ins Pantheon der Klassiker bedeutet immer auch Neutralisierung.

Historische Erfahrung

Möchte man die historische Erfahrung bestimmen, die konstitutiv für Heinrichs Denken ist, so ist auf zwei Momente zu verwiesen: Geboren im Jahre 1927 in Berlin, wurde Heinrich im Alter von 15 Jahren als Luftwaffenhelfer eingezogen. Kleinere Sabotageaktionen führten zu einem Verfahren wegen Defätismus und Wehrkraftzersetzung.

Die Erfahrung des Nationalsozialismus und der Widerstand gegen die angesichts der Indifferenz der Deutschen reale Möglichkeit der Wiederholung affizieren das Denken Heinrichs nachdrücklich.

So schreibt dieser in der abschließenden Anmerkung seiner Habilitationsschrift: „Nachdem in Deutschland die Chance verpaßt worden ist, […] die Frage zu stellen, wie die zerstörerische Bewegung, die sich zuletzt nationalsozialistische nannte, möglich war […], scheint es mir jetzt eine Aufgabe […] zu sein, sich durch den Panzer der Indifferenz hindurchzufragen, der eine Folge unserer Versäumnis ist.“

Neben der Erfahrung des postnazistischen Deutschlands ist die des deutschen Staatssozialismus prägend: Ab 1945/46 studierte Heinrich an der Friedrich-Wilhelms-Universität und geriet schnell in Konflikt mit dem Marxismus-Leninismus als Legitimationswissenschaft staatskapitalistischer Herrschaft.

Möchte man aufbauend auf diesem biografischen Hintergrund den kritischen Kern der Arbeiten Heinrichs bestimmen, so ließe sich dieser bezeichnen als der Versuch der Rettung der materialistischen Kritik durch die Überschreitung des historischen Marxismus, in die die Reflexion auf den Nationalsozialismus eingeht.

Eine durchaus seltsame Konstellation: ein Religionsphilosoph, der einem an der Kritik der politischen Ökonomie und der kritischen Theorie orientierten Materialismus zentrale Impulse gibt.

Klaus Heinrich: Das Gesamtwerk. ça ira Verlag, Wien.

Wie ließe sich der Zusammenhang zwischen Heinrich und Marx darstellen?

„Die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte“, schreibt Marx, ist, „daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um ‚Geschichte machen‘ zu können. […] Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst“. Doch führt „das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen“. An einem gewissen Punkt tritt ein Widerspruch auf zwischen dem Bedürfnis und der Möglichkeit zu dessen Befriedigung: Jede gesellschaftliche Verkehrsform bringt ein Bedürfnis hervor, dem sie selbst zur Fessel wird. Deren Sprengung heißt dann „geschichtliches Ereignis“.

Zwar sind die gesellschaftlichen Formen Produkte des menschlichen Handelns, doch tritt die Verkehrung ein, dass diese Formen auf ihrem eigenen Grund – die Sicherung der Lebenserhaltung und die Befriedigung von Bedürfnissen – undurchsichtig sind: Dieser ist nicht Zweck, sondern bloß Mittel zu ihrer Selbsterhaltung.

Man hat es also mit der paradoxen Situation zu tun, dass die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung eine von diesem Zweck unabhängige Form annehmen und ihr eigentlicher Zweck nur noch insofern eine Rolle spielt, als er als Mittel ihrer Fortexistenz dient.

Marx konnte der historischen Entwicklung nun noch die geschichtsphilosophische These unterjubeln, dass sie das Bedürfnis nach der Abschaffung dieses verkehrten Zustands schaffe. Die proletarische Weltrevolution aber blieb aus und der Tag der Wannsee-Konferenz markiert den (vorläufigen) Schlussstrich unter der Geschichte, die sich nicht mehr als eine im Bewusstsein der Freiheit fortschreitende darstellen lässt.

Nicht Freiheit, Vernichtung

Nicht Kommunismus, sondern Nazifaschismus. Diese historische Erfahrung hat der Materialismus in sich aufzunehmen und dieser Weg führt von Marx zu Heinrich. Dieser erinnert an das Triebleben der Subjekte und legt dessen gesellschaftliche Verarbeitung offen. Im Zentrum steht dabei eine zweite, gesellschaftlich immer vermittelte anthropologische „Konstante“: Die Menschen sind zum einen bedürftige, zum anderen aber auch sich ängstigende Wesen.

Ihren Grund hat diese Angst in der Drohung, mit nichts identisch – einfacher: frei – zu sein. Von hier aus erscheinen die oben zitierten Passagen in neuem Licht: Zur Bewältigung dieser Drohung entwickeln die Subjekte Strategien, welche die Kontrolle dieser Angst garantieren sollen, oder übertragen die Verantwortung für ihre Freiheit auf andere Instanzen, die ihnen die Bewältigung dieser ihrer Angst (momentan) garantieren.

Liegt der Fokus Marxens auf der Formenanalyse der kapitalistischen Gesellschaft, so kapriziert sich Heinrich auf die Frage, was herauskommt, wenn man die gesellschaftlichen Verkehrsformen inhaltlich liest. Anders gesagt: Er fragt sich, welches Moment diese Formen zusammenhält. Und die Antwort ist: Angstbewältigung. Der Inhalt jeder Verkehrsform ist eine kollektive, namenlose Angst, und die Fixierung einer spezifischen Form der Versuch deren Bewältigung. Das Kapital erscheint so als wahnwitzige „Angstbewältigungsstrategie, die deshalb so erfolgreich […] ist, weil es den Individuen verspricht, sie von ihrer Freiheit zu ‚befreien‘“ (Dahlmann).

Das Kapitalerscheint so alswahnwitzigeAngstbewältigungs­strategie

Angesichts des im Nationalsozialismus real gewordenen „Selbstvernichtungstriebs“ (Freud) analysiert Heinrich anhand verschiedener symptomatischer Ausdrücke – etwa den Stoffen der Mythologie, Kunst, Religion, Philosophie oder Psychoanalyse – die Verdrängung der Verantwortung der Subjekte für ihre eigene Freiheit.

Heinrichs historischer Materialismus ließe sich also beschreiben als ein selbstanalytischer Prozess zivilisatorischer Konflikte, der symptomatische Erscheinungsformen dieser Konflikte in den Blick nimmt, um so die Wiederkehr der Verdrängung oder die Möglichkeit des Widerstands gegen eben diese Wiederkehr offenzulegen.

All dies geschieht in der Hoffnung, die Subjekte darauf zu stoßen, dass sie sich stets gegen den Wiederholungszwang und die Stillstellung der Freiheit in der totalen Identität entscheiden können.

Wer sich für die Durchführung dieses nach allen Seiten hin offenen analytischen Prozesses interessiert, sei auf die Edition der „Dahlemer Vorlesungen“ verwiesen. Wer erfahren möchte, wie es Heinrich auch en miniature gelingt, einen Faden durch die unbewältigte Menschheitsgeschichte zu schlagen und ein Kontinuum der Wiederkehr des Verdrängten bis in die jüngste Vergangenheit hin darzustellen, halte sich an den kürzlich erschienenen Band „wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt“.

Heinrichs Schriften ist eine große Verbreitung zu wünschen. Damit sie hoffentlich einmal überflüssig werden.

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