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Aufbruch und Vorurteile

Nach 14 Jahren kehrt die Prater Galerie zurück, als Gast im „Acud macht neu“, mit der Ausstellung „gegen\archive: wer bleibt wo“. Die verfolgt Geschichten aus dem Ostberlin der Nachwendezeit

Von Julia Hubernagel

Party like it’s 1990: Auf einer der wohl gentrifiziertesten Straße Berlins, der Kastanienallee, soll demnächst ein Stück Nachwendekultur wiederauf­erstehen. Der Prater – heute vor allem durch den Biergarten nach außen wirkend – vereinte im postsozialistischen Berlin Konzerte, Kunst und Theater in sich. Christoph Schlingensief gab dort etwa in den 90er Jahren das Theaterspektakel „Tötet Helmut Kohl“ zum Besten und gründete auf dem Gelände die Kleinpartei „Chance 2000“. Auch eine kommunale Galerie gab es, die jedoch 2007 ihre Türen schloss. 14 Jahre später soll die Prater Galerie an ihrem einstigen Standort neu eröffnen und hat nun eine erste Bestandsaufnahme gemacht: Passt eine Kunstgalerie heute noch auf die Kastanienallee?

Grundrisse, Zeitdokumente, alte und neue Fotos hat die Künstlerin Karla Sachse für die Ausstellung „gegen\archive“ im „Acud“ zusammengestellt, um die Veränderungen auf der Flaniermeile des Prenzlauer Bergs zu dokumentieren. Der Fokus liegt auf Gründlichkeit, weniger auf Attraktivität; es gibt viel zu lesen. Sie arbeitet die besondere Stellung des Prenzlauer Bergs als Kunstort heraus, im nun wiedervereinten Berlin. Der Stadtteil hatte es damit natürlich verhältnismäßig leicht, war in den 80er Jahren Zentrum der DDR-Avantgarde und konnte die bereits vorhandene Infrastruktur nutzen, um nach der Wende Spielwiese für neue Kunstformate zu sein.

Wie etwa das „kunst-raum-straße“-Festival, bei dem in den 90er Jahren Lesungen, Performances und Konzerte rund um die Oderberger Straße stattfanden. Sachse hat gewissenhaft gearbeitet, mit der liebevollen Sorgfalt einer, die dabei gewesen ist, fast vergessene Kunstprojekte des Nachwende-Prenzlauer-Bergs wieder ans Licht geholt. Das Knochengeld zum Beispiel, das, von Künstlern wie Bert Papenfuß oder Ronald Lippock gestaltet, als Alternativwährung eine Woche lang in bestimmten Geschäften genutzt werden konnte.

Doch die postsozialistische Stadt brachte nicht nur dem Prenzlauer Berg Veränderung, auch wenn der frische Wind hier vielleicht am stärksten wehte. Ostberlin, das war auch immer Lichtenberg, Marzahn, in dem weniger Kunst als Arbeiter zu Hause sind. In „Bruderland ist abgebrannt“ erzählt die Filmemacherin Angelika Nguyen die Geschichte der vietnamesischen Ver­trags­ar­bei­te­r:in­nen vom Ende her und öffnet damit ein weiteres Kapitel der „gegen/archive“.

Vom DDR-Regime aus dem sozialistischen Partnerstaat angeworben, arbeiteten 1989 etwa 60.000 Viet­na­me­s:in­nen in Ostdeutschland. Zwei Jahre später waren es nur noch 14.000, die meisten der Gast­ar­bei­te­r:in­nen waren nach Vietnam zurückgekehrt. Von einem Tag auf den anderen hatten ihre Verträge an Gültigkeit verloren, weder für einen nachfolgenden Arbeits- noch für einen Schlafplatz war gesorgt.

Nguyen zeigt Szenen von Plattenbausiedlungen im Sommer, Deutsche wie Viet­na­me­s:in­nen genießen ihre neu gewonnene Freiheit, könnte man meinen, Oktoberklubs „Saigon ist frei“ tönt in dem Kontext anachronistisch von einer mittlerweile in sich zusammengefallenen Aufbruchstimmung. Zumindest den vietnamesischen Ost­ber­li­ne­r:in­nen brachte die neue Freiheit nämlich vor allem Probleme.

Die Dagebliebenen beschreiben ein Klima der Angst: Rassistische Überfälle seien an der Tagesordnung, nach Einbruch der Dunkelheit traue sich kaum einer mehr vor die Tür. Die DDR-Bürger:innen, auch früher vielleicht misstrauisch gegenüber den Fremden, stehen mit den einstigen Ver­trags­ar­bei­te­r:in­nen nun in direkter Konkurrenz um die Arbeitsplätze. 80 Prozent der gebliebenen Viet­na­me­s:in­nen waren 1991 arbeitslos.

Heute leben etwa 40.000 Viet­na­me­s:in­nen in Berlin. Die Teilung Vietnams spiegelt sich auch in der deutschen Hauptstadt wider: In den Osten kamen die Viet­na­me­s:in­nen als Vertragsarbeiter:innen, in den Westen zumeist als Boatpeople, als Kriegsflüchtlinge. Vorurteilen begegnen sie heute vielerorts immer noch.

Jinran Ha und Johanna Käthe Michel lassen diese Vorurteile mithilfe des Nagelstudios als migrantischen Ort sprechen. Sie tun das auf eine spielerische Art, was im Kontrast zu den sehr informationsbasierten Ausstellungsstücken steht, den „gegen\archiven“ aber überaus guttut. In „Dialogue of the objects/komische Fragmente“ sprechen in einem Nagelstudio zu findende Gegenstände in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Vietnamesisch über ihr Anderssein. Sie gönnen sich zunächst nichts, ergehen sich selbst in vermeintlich unschuldigen rassistischen Äußerungen und finden am Ende doch zu feministischer Selbstermächtigung. „I like the idea of shaping and sharpening – the Nagelpfeile is able to prepare you for everyday struggle“, sagt die Plastikorchidee, die eigentlich aus China stammt.

Und kämpferisch muss sich die nächste Generation Viet­na­me­s:in­nen auch geben. Die Kinder der Boatpeople und Ver­trags­ar­bei­te­r:in­nen sind noch nicht lange im Erwachsenenalter, was sie etwa von vielen Nachkommen türkischer Gast­ar­bei­te­r:in­nen unterscheidet, die mittlerweile in dritter Generation in Deutschland leben. Ihre Geschichte ist noch nicht geschrieben.

„gegen\archive: wer bleibt wo“, bis 30. Januar 2022, Acud macht neu, Veteranenstraße 21, 10119 Berlin, Öffnungszeiten: Mi.–So., 12–19 Uhr

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