Kein Bier für Ungeimpfte

In Österreich explodiert die Zahl der Corona-Infektionen. Gleichzeitig ist dort die Impfquote besonders niedrig. Jetzt hat die Regierung drastische Maßnahmen erlassen: Wer nicht geimpft ist, muss draußen bleiben

Demonstration in Wien, Ende Oktober: Impfverweigerer und Coronaleugner haben in Österreich viele Anhänger Foto: Florian Wieser/dpa

Aus Wien Ralf Leonhard

Wie abgeschnitten war das À-la-carte-Geschäft am Montag“, klagt Erich Mayrhofer. Der Bärenwirt, dessen Gourmet-Restaurant weit über Petzenkirchen im niederösterreichischen Mostviertel Gäste anzieht, hatte Einbrüche erwartet. Aber keine solch drastischen. Am Samstag sei das Lokal mit 50 Gästen noch voll gewesen: „Gestern waren es fünf.“ Allein für den November seien 650 Reservierungen storniert worden. Rund um den Martinstag am 11. November kommen normalerweise kleine und größere Gruppen zum traditionellen Gänseessen, zudem beginnen die Weihnachtsfeiern. „Wenn eine Achtergruppe reserviert hat und einer ist nicht geimpft, sagen alle ab“, sagt Mayrhofer jetzt: „Die Firmen trauen sich nicht und sagen lieber ganz ab.“

Seit diesem Montag gilt in ganz Österreich die 2G-Regel: Nur wer gegen Covid-19 geimpft oder von der Krankheit genesen ist, hat freien Zugang zur Gastronomie, zu Kultur- und Sportveranstaltungen und zu körpernahen Dienstleistungen. Am Arbeitsplatz gilt seit 1. November 3G, denn in Österreich explodieren seit Mitte Oktober die Infektionszahlen. Am Mittwoch lag die Inzidenz bei schwindelerregenden 651 Neuinfektion auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Die Behörden meldeten 11.398 neue Fälle – und das bei lediglich 8,9 Millionen Einwohnern.

Bei Mario Pulker, dem Leiter der Gruppe Gastronomie in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), vibriert das Handy fast im Minutentakt. Er meldet sich auf der Rückfahrt von einer Krisensitzung in Klagenfurt: „Es herrscht Panik. Wir hatten mit 30 bis 40 Prozent Umsatzrückgang gerechnet, aber es sind 60 Prozent.“ Er erzählt von stornierten Weihnachtsfeiern, Taufen, Hochzeiten, selbst Stammtische träfen sich lieber privat, als sich einer Impfung zu unterwerfen.

Dabei zeigten die Gastwirte durchaus Verständnis: „Es geht wohl nicht anders, wenn man einen kompletten Lockdown verhindern will. Aber wir sind wieder die Leidtragenden“, sagt Pulker, der 60.000 Betreiberinnen und Betreiber von Gastronomiebetrieben vertritt, „vom Würstelstand bis zum Haubenlokal“.

Von der Politik fordert man die Beibehaltung der halbierten Umsatzsteuer und einen Verlust­ersatz, außerdem die Verlängerung der Kurzarbeit und die weitere Stundung von Krediten. Pulker rechnet nächstes Jahr mit 1.400 Insolvenzen in der Branche. Vor Corona waren es zwischen 300 und 400 jährlich.

Die Wienerin Lydia Berger muss nach einer Muskelverletzung jede Woche zur therapeutischen Massage. „Am Montag hat man dort erstmals meinen Impfnachweis sehen wollen“, erzählt sie. Im Austria Center, einem großen Konferenzzentrum an der Donau, wo sich die 69-Jährige am Mittwoch ihre Booster-Impfung abholte, beobachtete sie einen deutlich erhöhten Zulauf von Impfwilligen als noch vor einer Woche. Damals hatte sie eine Enkelin zum Zweitstich begleitet. „Viele Ältere, aber auch junge Leute standen jetzt Schlange“, sagt die Rentnerin.

„Wenn eine Achter­gruppe reserviert hat und einer ist nicht geimpft, sagen alle ab“

Erich Mayrhofer vom Gourmet-Restaurant Bärenwirt

Allein am Samstag ließen sich in ganz Österreich 32.000 Menschen impfen, nachdem die Nachfrage wochenlang bei vier- bis fünftausend Stichen täglich stagniert hatte. Erstmals mussten wieder Wartezeiten in Kauf genommen werden.

Die Einhaltung der Regeln soll jetzt scharf überwacht werden, hat Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wissen lassen. 800 zusätzliche Polizisten würden dafür abgestellt, speziell zur Kontrolle von Gasthäusern und Friseursalons. Besuchern ohne Impfpass drohen bis zu 500 Euro Strafe, Lokalbetreiber müssen mit maximal 3.600 Euro rechnen.

In Österreich ist die Impfung wie in ganz Europa gratis und in den meisten Impfzentren muss man nicht einmal einen Termin ausmachen. So kam es am Wochenende zu einem regelrechten Ansturm auf das Vakzin, das Freiheit verspricht. „Die 2G-Regel ist a Grund“, gab eine junge Frau in der Schlange vor einem Impfzentrum freimütig zu, „aber für mich war’s doch am wichtigsten, dass ich persönlich geschützt bin.“

Diese Einsicht bedurfte einer halbjährigen Reifezeit, denn seit dem Sommer ist in Österreich Impfstoff im Überfluss vorhanden. Appelle von Politik und Medizin an die Vernunft und die gesellschaftliche Solidarität haben weit weniger bewirkt als die Impfpflicht durch die Hintertür. Kaum einer, der im Gasthaus seinen grünen Impfpass vorweisen muss, fühlt sich deshalb belästigt. „Ich find’s g’scheit“, sagt der 52-jährige Alois, der in einem Gasthaus auf sein Schnitzel wartet. „Hätten sie schon viel früher einführen sollen“, meint Sonja, die mit einer Freundin bei einem Bier sitzt.

Auf den Intensivstationen lagen am Dienstag erstmals seit dem Frühjahr wieder mehr als 400 Coronapatienten. Zwar sind zwischen 80 und 90 Prozent von ihnen Ungeimpfte, wie die Spitäler bekannt geben, doch kommt es vermehrt zu Impfdurchbrüchen, also der Ansteckung von vollständig Geimpften. Epidemiologen rufen deshalb alle Geimpften auf, sich den dritten Stich geben zu lassen, denn nach sechs Monaten verliere die Immunität an Kraft. Und Richard Greil, Primarius an der Universitätsklinik Salzburg, wo seit Tagen im Krisenmodus gearbeitet wird, richtete einen geradezu verzweifelten Appell an die Politik, endlich zu handeln.

Chillen in Lissabon: Die Impfquote ist in Portugal besonders hoch, Coronaleugner spielen kaum eine Rolle Foto: Armando Franca/ap

Wie gemütlich war es doch im Sommer: die Sieben-Tage-Inzidenzen waren niedrig, in den Krankenhäusern konnte man sich wieder um Menschen mit Herzinfarkt, Kreislaufkollaps und kaputten Gelenken kümmern. Sebastian Kurz, damals noch Bundeskanzler der Republik, erfreute das Wahlvolk mit dem Versprechen: „Für jeden, der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei.“ Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne), der anders als Kurz tatsächlich etwas von Medizin versteht, gab den durch mehrere Lockdowns frustrierten Jugendlichen freie Bahn: „Jetzt seid ihr dran.“ Also auf zu Sommerpartys und ins Nachtleben! Seine Verheißung vom Juli wiederholte Kurz auch noch im September, als die Zahlen zaghaft wieder anzusteigen begannen.

Mediziner und Modellrechner warnten schon damals vor dem Herbst, denn nach einem Ansturm auf die Impfstationen im Sommer stagnierte die Zahl der Erstimpfungen. Nachdem 60 Prozent der impfbaren Bevölkerung immunisiert war, kamen immer weniger Menschen, um sich den Piks abzuholen. Jetzt, Mitte November, sind erst 63 Prozent erreicht. Pamela Rendi-Wagner, SPÖ-Chefin und gelernte Epidemiologin, sagt: „Ohne 80 Prozent Durchimpfungsrate werden wir Corona-Einschränkungen nicht loswerden.“ Länder wie Portugal bewiesen das.

Oberösterreich, das drittbevölkerungsreichste Bundesland, wählte seinen Landtag am 26. September. Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) regiert dort seit sechs Jahren mit der rechten FPÖ, die Impfskeptiker und Verschwörungsspinner als neue Zielgruppe entdeckt hat. Die wollte man mit einer offensiven Impfkampagne nicht vergraulen. Das Resultat: Neben den Freiheitlichen zog mit der Kleinstpartei „Menschen – Freiheit – Grundrechte“ eine neue Gruppierung von Impfskeptikern in den Landtag ein. Oberösterreich hat die niedrigste Impfquote des Landes, die mit der höchsten Corona-Inzidenz korreliert: schwindelerregende 1.000,2. Wien, dessen SPÖ-geführte Stadtregierung im Sommer auf große Lockerungen verzichtete, kam am Mittwoch mit 407 dagegen auf die niedrigste Sieben-Tage-Inzidenz aller Bundesländer. Bürgermeister Michael Ludwig hatte sich im Sommer für seine vorsichtige Politik noch die Schelte von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) anhören müssen. Wiens Vorgangsweise gehe „völlig an der epidemiologischen Realität vorbei“, hatte sie erklärt.

Ein ganz eigenes Kapitel stellt der FPÖ-Chef Herbert Kickl dar, der, ganz im Geiste von Donald Trump, als Quacksalber auftritt. Es ist ihm gelungen, gleichzeitig die Pandemie als Vorwand für Freiheitseinschränkungen darzustellen und die Regierung für die hohen Infektionszahlen zu geißeln. Kickl hat sich virologisch und notariell bescheinigen lassen, dass er nicht geimpft ist. Zur Behandlung von Covid-19 empfiehlt er das Mittel Ivermectin, das Veterinäre zur Entwurmung von Pferden einsetzen. Er beruft sich dabei auf eine libanesische Studie, die deren angebliche Autoren inzwischen als Fälschung entlarvt haben.

Ungeachtet dessen will Kikl demnächst eine große Demonstration gegen den „Corona-Wahnsinn“ auf die Beine stellen. Der FPÖ-Chef hat zudem Juristen beauftragt, Klagen gegen das „3- und 2G-Zwangsregime von ÖVP und Grünen“ zu prüfen.

Noch wilder als Kickl treibt es der rechtsextreme Coronaleugner Stefan Magnet, der seine wirren Thesen über einen obskuren Privatsender in Linz verbreitet. Die „Corona-Panik“ sieht er als „geplanten Verzweiflungsakt der Hochfinanz“, womit ganz offensichtlich die Juden gemeint sind. Wie Kickl sieht Magnet die Impfung als „Instrument der Unterwerfung und Kontrolle“.

Dafür verheißt er die Erlösung durch die „Aufgewachten“ – allerdings erst nach einem von dunklen Mächten entfesselten Inferno.