Westlich-östliche Hingabe

Ein indisch geprägtes Festival fernab von Exotismus und Kitsch: Die indo-britische Sitar-Spielerin Anoushka Shankar gestaltete vier Tage lang das Programm der Elbphilharmonie

Anoushka Shankar spielt Sitar. Aufs Indien-Klischee setzt sie dabei nicht. Oder wenigstens: fast nicht Foto: Daniel Dittus

Von Jan Paersch

Ein indisch geprägtes Festival fernab von Exotismus und Kitsch: Die indo-britische Sitar-Spielerin Anoushka Shankar gestaltete vier Tage lang das Programm der Elbphilharmonie, zwischen Klassik, Jazz und aggressiver Clubmusik. Zehn Konzerte finden an dem Wochenende statt, dazu mehrere Rhythmus- und Klassik-Workshops.

Das Gespräch dauert eine halbe Stunde, da wird die sonst so beherrschte Frau laut. Ob sie ihrem Instrument einen Namen gegeben habe? „Das werde ich Ihnen doch nicht sagen!“ Anoushka Shankar lacht ein helles Lachen. Es ist eine intime Beziehung zwischen den beiden.

Shankar, geboren 1981 in London, kam zum ersten Mal mit neun Jahren mit der nordindischen Langhalslaute in Kontakt – vier Jahre später gab sie ihr professionelles Konzertdebüt. Der charakteristische metallische Klang der bis zu 20-saitigen Sitar ist bereits auf zehn ihrer Alben zu hören. „Was die Sitar für mich bedeutet? Sie kann alles sein. Es hat etwas mit einem Gefühl der Hingabe zu tun. Unsere Beziehung ist eine symbiotische, fließende.“

Anoushka Shankar ist ihr ganzes Leben lang von dem 800 Jahre alten Instrument umgeben gewesen – ihr Vater war Ravi Shankar. Der Mann, der der westlichen Welt die klassische nordindische Musik nahebrachte, der Yehudi Menuhin und die Beatles lehrte, der vierfache Grammy-Gewinner. Der Mann, der sein letztes Konzert einen Monat vor seinem Tod absolvierte, im Alter von 92 Jahren. Ravi Shankar war seiner Tochter gleichermaßen Vater, Vorbild und Guru – im Hinduismus kein abwertender Begriff, sondern der religiöse Titel für einen spirituellen Lehrer.

Anoushka Shankar sitzt in einem Konferenzraum im zwölften Stock der Hamburger Elbphilharmonie und lächelt ihr höflichstes Lächeln. Sie weiß: Sie kann den Fragen nach dem Vater nicht entkommen. „Ich bin, wer ich bin und muss meinen Weg gehen. Aber er war mein Lehrer und ist deshalb auch ein Teil meiner musikalischen Geschichte. Ich habe meinen Frieden damit gemacht, dass er immer erwähnt werden wird – egal, was über mich geschrieben wird. Es ergab irgendwann keinen Sinn mehr, dagegen anzukämpfen.“

Wie Ravi hat Anoushka Shankar stets Genres vermischt und mit KünstlerInnen weltweit gearbeitet. Doch wo der Vater bei aller Offenheit stets der Indischen Klassik verhaftet blieb, hat die Tochter sich weit davon entfernt. Als Teenagerin lebte sie in Kalifornien, zog später nach London und widmete sich Electronica genauso wie Flamenco. Sie unternahm Ausflüge Richtung westlicher Klassik und arbeitet bis heute immer wieder mit ihrer Halbschwester Norah Jones zusammen. Anoushka Shankar ist sehr erfolgreich: Als erste indische Frau überhaupt war sie im Jahr 2003 für einen Grammy nominiert.

In Hamburg ist sie, um ein langes Wochenende lang den „Elbphilharmonie Reflektor“ zu kuratieren. Von Donnerstag bis Sonntag hat die Londonerin KünstlerInnen aus aller Welt eingeladen, beide Säle des Hauses zu bespielen.

„Ich wollte den Leuten einen Einblick geben, was es da draußen gibt. Alle, die ich eingeladen habe, sind nachdenkliche, integre Menschen. Sie schauen auf ihre Wurzeln. So wie sie spielen, wird Tradition zu etwas Lebendigem, zu einer sehr gegenwärtigen Angelegenheit.“

Was Shankar mit „da draußen“ meint, ist nicht leicht zu erklären: Sie meint damit indische Klassik genauso wie indisch-beeinflusste Club-Sounds von Menschen, die nie länger in Indien waren. Und dann ist da noch die Kunst der dritten Migranten-Generation: MusikerInnen aus indo-britischen Familien zwischen Tradition und Brexit-Gegenwart.

Sarathy Korwar ist so einer. Für den Schlagzeuger ist das Jonglieren mit unterschiedlichen kulturellen Einflüssen so alltäglich wie Schnürsenkel binden. Korwar, geboren in den USA, aufgewachsen in Indien und heute in London lebend, hat das klassische Spiel der Tabla, der kleinen Kesseltrommel, studiert, bevor er sich westlichen Instrumenten zuwandte. Er bewegt sich mit dem lässigen Gang eines Rappers auf der Bühne des Großen Saales.

Dort tritt Korwar am Samstagabend mit seinem Upaj Collective auf, einer Londoner Band von bis zu zehn MusikerInnen; heute sind sie zu siebt. Im Jahr 2017 brachte das Kollektiv ein fulminantes Livealbum heraus, mit einem Titel, der die Komplexität, aber auch die Poesie von Migrationsgeschichten in gerade einmal fünf Wörtern zusammenfasst: „My East is Your West“. Seitdem ist das Upaj Collective eher noch besser geworden.

„Wir alle lieben indische Klassik und Spiritual Jazz“, sagt Korwar in einer Applauspause und meint den entrückten modalen Jazz, dem sich US-KünstlerInnen wie John und Alice Coltrane in den späten Sixties zuwandten. „Aber es hat uns dann doch genervt, dass auf den Aufnahmen so oft schlecht gestimmte indische Instrumente zu hören waren.“

Falsch klingt so gar nichts während des brillanten Konzertes des Upaj Collective. Mit Schlagzeug, E-Bass, Gitarre und Keyboards mutet die Kernformation wie eine Rockband an – aber diese Gruppe, zu der auch ein klassischer Violinist und ein Perkussionist gehören, kann so viel mehr: Verträumte Fusion, HipHop-Breaks, elektrischer Souljazz, lange, klassisch anmutende Soli – und gegen Ende interpretieren die sieben sogar einen Song des DJs State of Bengal aus dem „Asian Underground“ der Neunziger Jahre, einer migrantisch geprägten Drum’ n’ Bass/House-Szene.

„Was die Sitar für mich bedeutet? Sie kann alles sein. Es hat etwas mit dem Gefühl der Hingabe zu tun. Unsere Beziehung ist eine symbiotische“

Anoushka Shankar, Musikerin

Unmöglich zu sagen, welche Einflüsse des Upaj Collective woher kommen. Ihre Arrangements von Jazzern wie den Coltranes und dem stets der East-West-Fusion zugewandten englischen Gitarristen John McLaughlin ergeben mehr Sinn als die Originale – sind sie doch von jedem pseudo-hinduistischen Kitsch befreit und profitieren von einem Fokus auf Korwars wuchtigem Trap-Drumkit.

Direkt danach tritt auf der kleineren Bühne die Synthesizer-Bastlerin Arusha Jain auf – sie wurde von der Kultur Neu Delhis und vom Geist der kalifornischen Stanford University geprägt. Ihr Live-Electronics-Set ist der einzige Reinfall des Wochenendes – unterkomplexe Ambient-Klangwolken zum Wegdösen.

Ungleich aufregender: das Trio-Konzert von Sasha Perera alias Perera Elsewhere im Anschluss. Die in London geborene Berliner Sängerin und Trompeterin kombiniert ihren dunklen Sprechgesang mit aggressiven Live Drums und markerschütterndem Bass. Drum’ n’ Bass, Dub und TripHop mit großem dramaturgischem Feingefühl.

Anoushka Shankar ist tief bewegt von der Kunst ihrer Gäste. Sie habe mehrfach Tränen vergossen, berichtet sie im Elbphilharmonie-Konferenzraum über das Auftakt-Konzert am Vorabend. Bestritten wurde es von Indrani Mukherjee, eine der führenden Sängerinnen nordindischer Musik, die sich ganz den klassischen Ragas widmet. Im hindustanischen Musiksystem bilden sie die melodische Grundlage, vergleichbar mit europäischen Tonleitern. Jedoch: Im Westen gibt es nur Dur und Moll, in Indien gleich 72 Ragas.

„Alles basiert auf den Ragas“, erklärt Shankar. „Es gibt welche für verschiedene Tages- und Jahreszeiten. Das Ziel ist es, sie so gut zu beherrschen, dass man sich darin frei bewegen kann. Das ist der größte Unterschiede zur westlichen Musik: Unsere klassische Musik ist gleichermaßen komponiert und improvisiert.“

Die Sitar-Spielerin bestreitet ihr Konzert mit eigenem Sextett erst nach Redaktionsschluss. Doch wer sie über ihr Instrument reden hört, der bekommt eine Ahnung von ihrer Kunstfertigkeit: „Manche sagen ‚Mutter‘ oder ‚Vater‘, für andere ist es eine Geliebte. Die Liebe zu meinem Instrument ist eine sehr zarte. Manchmal fühle ich mich wie eine schützende Mutter, manchmal bildet sich eine Einheit, wie bei Liebenden. Die Sitar ist all das zusammen.“