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Geistreiche Tonbandbeschwörung

Den Klang der Zeit im Bild einfrieren: Damit beschäftigt sich Gregor Hildebrandt im Mies van der Rohe Haus in Weißensee

Von Robert Mießner

Schon mal versucht, ein Gemälde zurückzuspulen? Schneller Vorlauf in einem Bildwerk? In Gregor Hildebrandts Ausstellung „Im Sturz durch Raum und Zeit“, die noch bis Ende März nächsten Jahres im etwas dornröschenhaft gelegenen Mies van der Rohe-Haus an der Grenze der Stadtviertel Weißensee und Alt-Hohenschönhausen zu sehen ist, wird ein solches Kunststück nicht unbedingt gelingen, dafür aber lässt sich ein ziemlich origineller Umgang des Künstlers mit seinem stofflichen Material studieren. Hildebrandt arbeitet mit Magnetbändern aus Audio- und Videokassetten, er fixiert die langen, schmalen Folien mit Klebeband auf Leinwand und zeichnet mit Acryl.

Er tut dies mit einigem sichtbaren Schwung, die Resultate haben etwas von eruptiven Hieroglyphen, von Höhlenzeichnungen. Die Titel seiner Bilder entnimmt Hildebrandt der Popmusik. „Im Sturz durch Raum und Zeit“, das Motto der Ausstellung, ist ein Hit der Neuen Deutschen Welle aus dem Jahr 1984, als Nena noch eine Band war. Der Titel passt dazu, dass Hildebrandt Medien der Vergangenheit nutzt, noch dazu Datenträger von zeitbasierten Künsten. „I want to be where the sun warms the sky“ und „The sun would set so high“, das ist gleich zweimal Madonna mit Zeilen aus ihrer lateinamerikanischen Anverwandlung ihres Songs „La Isla Bonita“ (1987). Der Witz dabei ist, dass diese Zeilen, sie gehören sowieso schon zu einem Lied, das zwischen Unbeschwertheit und Schwermut pendelt, im Zusammenspiel mit Hildebrandts Bildern deutlich in Richtung Melancholie ausschlagen. Die Sonne würde, sie könnte, aber sollte sie? Und was?

Einen viel düsteren Ton schlägt das größte Bild der Ausstellung an. „Das Raumschiff“ nimmt mit 2,20 mal 1,60 Meter Ausmaß eine ganze Wand ein. Hildebrandt hat hier zu VHS-Bändern gegriffen, und Material und Titel beschwören einen Film herauf, einen, der eher eine Dystopie ist. Wer sich von der Vorstellung verabschiedet, der Flugkörper müsse sich im Anflug befinden, wird ein amorphes Geschehen sehen, in dem sich ein mögliches Raumschiff vom Betrachter entfernt oder aber in einer Explosion aufgelöst hat. Das Unglück, in dem alle 1986 sieben Besatzungsmitglieder der US-Raumfähre „Challenger“ ums Leben kamen, gehört in dasselbe Jahrzehnt wie die Songs, bei denen sich Hildebrandt bedient. Die Explosion der „Challenger“ wurde damals in Millionen Haushalte, die einen geglückten Start verfolgen wollten, live übertragen.

Ein anderer Teil der Ausstellung ist nur für kurze Zeit zu Beginn der Ausstellung im Oktober zu sehen gewesen. Da hatte Gregor Hildebrandt auf dem Obersee, er schließt sich an den Garten des Mies van der Rohe-Hauses an, ein aus Magnetbändern gewobenes schwarzes Segel gehisst. Eine Reminiszenz an eine Aktion Hildebrandts aus dem Jahr 2017, als er und eine Crew an Bord einer Yacht mit zwei schwarzen Segeln von Zypern zu einer Ausstellung nach Tel Aviv aufgebrochen waren. Die Songs auf den Magnetbändern sind von Laurie Anderson, Tocotronic und deren Seitenarm Phantom/Ghost: „Love among the Sailors“, „Sailor Man“ und „To Damascus“. Segeln kann als Metapher des Gebens verstanden werden, eine vorsichtig optimistische Lesart ist möglich.

Die Ausstellung beschließen die Bilder der Reihe „Horatio Herzchen“, in denen plötzlich die Farbe Rot auftaucht. Horatio heißt Hildebrandts 2020 geborener Sohn. Wenn es so weit ist, könnten seine Eltern, die Mutter ist die Künstlerin Alicja Kwade, ihrem Kind einen Song aus den frühen Achtzigern vorspielen: „Black Sails (in the Moonlight)“ heißt er, komponiert haben ihn die malenden Musiker oder musizierenden Maler Micky Hampshire und Billy Childish für ihre Garagepunk Thee Milkshakes, und er ist sehr gut.

Mies van der Rohe Haus, Oberseestr. 60, bis 27. März 2022

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