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Schließlich sind auch Gebirge veränderlich

„Niemand zwang mich an den Rand des Steilhangs“: Zsuzsanna Gahses assoziative Texte über ehrwürdige Bergmassive schweben und sind von einem feinen Witz durchfunkelt

Zsuzsanna Gahse: „Bergisch teils farblos“. Edition Korrespondenzen, Wien 2021. 176 Seiten, 22 Euro

Von Sabine Peters

Ruft das Matterhorn tatsächlich nach Menschen, um bestiegen zu werden? Wollen die Alpen zu unserer Freude als Naturschönheiten auftreten? Oder würde man aus ihrem Inneren vielmehr ein Knirschen und Ächzen hören, wenn man einen Zeitraffer benutzen könnte? Berge dienen unter anderem als Steinbrüche, Sportstätten und Touristenattraktionen, aber züchten kann man sie nicht. Das ist kein Grund, sie gleich als Wohnstätten von Göttern zu verehren; Lucius sagt, vor Bergen muss man nicht in die Knie gehen. Ruth besucht auf ihren Wegen durch Gebirgslandschaften gern Kapellen, um Kerzen für die Abgestürzten anzuzünden. Der Architekt Sam erklärt: Wenn er die Alpen gebaut hätte, würden sie anders aussehen. Und die Ich-Erzählerin in Zsuzsanna Gahses neuem Buch ist ohnehin nicht aufs Gipfelstürmen aus. Sie fürchtet vielmehr, dass die schroffen Felsen nur stürzen wollen, um alles mit sich zu reißen. Aber sie nimmt die Wörter gern beim Wort und sagt: „Besonders gefällt mir an den Bergen, dass sie bergen.“

Zsuzsanna Gahse wurde 1946 in Budapest geboren; ihre Familie floh 1956 nach dem Ungarnaufstand in den Westen. Die Schriftstellerin lebt heute nach verschiedenen anderen Stationen im Schweizer Thurgau. Seit 1983 arbeitet sie an einem sprachlich unverwechselbaren Werk, das in aller Eigenwilligkeit doch niemals abgedichtet oder unverrückbar wirkt, sondern vielmehr höchst vielstimmig und beweglich daherkommt. Buchtitel wie „Instabile Texte“ oder „Südsudelbuch“ – der Sudel steht für den flüchtigen Entwurf und für das Schmieren – verweisen auf die Lust am Experimentieren und am Vermischen.

Schreiben ist für Gahse eine Möglichkeit, eingefahrene Wahrnehmungs- und Denkschienen zu verlassen und in alle Richtungen auszuschweifen. Die Gebirge, die sie im neuen Buch umkreist, sind schließlich auch keine unveränderlichen Größen. Die Ich-Erzählerin sagt sich bei einer ihrer Bergtouren: „Dem erodierenden Giganten in der Ferne passiert etwas Bergisches.“ Klar; er ist kein Tier, dem etwas Tierisches widerfährt. Manche Felsen, mit Zement gekittet, sehen allerdings gebändigt aus. Die Erzählerin will zwar nicht, dass weitere Kerzen für erschlagene Zeitgenossen angezündet werden, aber ihre Menschenliebe hat Grenzen. Denn sie begegnet auf diversen Bergpässen häufig adre­nalinsuchenden Autofahrern, „Kurvenangebern“ oder ganzen Herden von Bussen, die wie im Gänsemarsch und unter dem Juchhei der Insassen durch die Gegend lavieren.

Der skeptische Blick auf allerhand sonderbare Verhaltensweisen schließt die eigene Person ein; Zsuzsanna Gahse steht nicht über dem menschlichen Gewimmel, um die Phänomene abgeklärt aus weisem Abstand zu bewerten.

Auch Berge bergen. Doch Zsuzsanna Gahse steht als Autorin keineswegs über dem menschlichen Gewimmel, um die Phänomene abgeklärt aus weisem Abstand zu bewerten

Die heute 75-jährige Schriftstellerin hat in ihrem Schreiben Eigenschaften behalten und entwickelt, die an Kindheit und Jugend erinnern: Neugierde, Unbefangenheit, Lust am Erproben, Freude am Spiel. Dabei ist das Buch weit entfernt von Naivität und Erfahrungsmangel. Denn die Hauptfiguren tragen schließlich ihre eigenen, unsteten Lebensgeschichten mit sich. In ihren Augen wird etwa eine bergische „Heimat“, die ein fest verwurzelter Einheimischer mit Zähnen und Klauen gegen wandernde Fremde verteidigt, zu einem „Unheim“. Und über den Inhalt hinaus zeigen Stil und Konstruktion dieses fragilen, diffizilen Textes, wie erfahren und hellhörig die Autorin mit ihrem Material, der Sprache umgeht, ohne dabei routiniert zu wirken.

Bei der im besten Sinne vertrackten Lektüre dieser 500 Notizen lässt sich an ein kubistisches Bild denken: Nicht ein einziges Motiv beherrscht das Ganze und lenkt den Blick, sondern dies Ganze zählt, wie lose dessen Details auch immer miteinander verbunden sein mögen. In kubistischen Bildern bleiben die Dinge übrigens auch nicht an ihrem gewohnten Platz; da findet sich etwa ein Ohr anstelle eines Auges – und entsprechend flexibel sind auch bei Gahse die Erscheinungen, Wahrnehmungen und Reflexionen. Die Erzählerin und Sam spielen gelegentlich mit der Idee eines Archivs oder begehbaren Tagebuchs, in dem sich allerhand Beobachtungen unterbringen ließen. Aber bei ihnen würde solch ein Ort immer eine Baustelle bleiben.

Gahses Figuren gehen der Nase nach, vertrauen ihren Assoziationen, lassen sich auf Naheliegendes und Entlegenes ein; daher findet man hier auch Erinnerungen an Gebirge in Kunst und Literatur aller Zeiten und Gegenden. Diese Prosa kommt schwebend leicht daher, sie ist von einem feinen Witz durchfunkelt und doch alles andere als gefällig. Wie nebenbei sagt der Text: Auch die Berge sind Gegenden, in denen sich die individuelle und allgemeine Verletzbarkeit zeigt. Kein Fels und keine Gesellschaft und kein Mensch wächst immer weiter und befindet sich im ewigen Steigerungsmodus. Das Nachdenken über unsere Begrenztheit und Endlichkeit muss weder andächtig noch zynisch machen – hier bleibt es ein Stachel.

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