Depressiv in Wanderschuhen

Daniel Schreibers Essay „Allein“ erkundet Einsamkeitsgefühle in der Pandemie

Daniel Schreiber: „Allein“. Hanser, Berlin 2021, 160 Seiten, 20 Euro

Von Nina Apin

Es wird Herbst in Deutschland und der Würgegriff der Pandemie beginnt sich zu lockern. Zeit, zurückzuschauen und sich zu fragen, welchen Abdruck in der Psyche die letzten anderthalb Jahre hinterlassen haben. Was haben der Wegfall gemeinsamer Erlebnisse, das Im-eigenen-Saft-Schmoren im kernfamiliären Kreis- oder das Zurückgeworfen-Sein auf das eigene Single­leben, mit uns gemacht? Daniel Schreibers Essay „Allein“ ist eine seelische Bestandsaufnahme, und zwar eine radikal persönliche. Wie in seinen vorherigen Reflexionen über das Trinken und das Zuhause, kreist auch diese Erkundung zunächst um den Autor selbst: Die Leserin begleitet den Berliner Mittvierziger dabei, wie er mit Freunden in Brandenburg einen Garten anlegt, leicht depressiv einen Schreibaufenthalt in Luzern antritt und sich dort ein Paar Wanderschuhe kauft, um wieder Tritt zu fassen. Um dann in der Pandemie den Mut zu verlieren.

„Es gab Tage, an denen ich kaum wahrnahm, wie einsam ich mich fühlte. An anderen Tagen überwältigte mich das Gefühl. Ich musste mir bewusstmachen, dass es Sinn ergab, meinen täglichen Betätigungen nachzugehen. Immer wenn ich irgendwo las, wie viel Zeit die meisten Leute jetzt hatten, wie sie die Pandemie nutzten, um neu zu sich zu finden, das eigene Leben zu überdenken, um sportlicher zu werden oder neue Sprachen zu lernen, spürte ich einen gewissen Neid, manchmal sogar eine unterschwellige Wut. Ich war so sensibel und fragil geworden, dass alles an mir rühren, mich alles erschüttern konnte.“

Schreibers literarische Methode ist die Selbstentblößung. Dabei zu sein, wie ihm der Schutzmantel des kosmo­politischen Groß­stadt­intel­lek­tuel­len fortgerissen wird, unter dem Einsamkeit und schwuler Selbsthass lauern, lässt Unbehagen aufkommen. Auch weil das beschriebene Elend zwar ein reales sein mag, doch auch recht privilegiert: Wer hätte nicht gern ein paar Monate auf Lanzarote verbracht, um den Kopf frei zu bekommen?

Doch der Autor, der schon für so verschiedene Publikationen wie Monopol, Cicero und die taz arbeitete, belässt es nicht bei der Nabelschau. Und reflektiert seine Privilegien als kinderloser, weißer Mittelschichtsakademiker ebenso mit wie die bürgerliche Tradition von deren literarischer Verarbeitung. Das Persönliche verwebt er geschickt – und so unverkrampft, wie es sonst nur angloamerikanische Essayistinnen von Hannah Arendt bis Rebecca Solnit vermögen – mit kulturhistorischen Reflexionen und ak­tuel­len wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Psychologie, Sozialforschung, Queer Studies und Medizinwissenschaft. Wie in dieser Passage über die Entfremdung von Freunden: „Der Mensch, der einem einmal so nahestand, ist zwar noch da, zugleich aber auch nicht. In mancher Hinsicht kommt das einem ‚uneindeutigen Verlust‘ gleich. Dieses Konzept geht auf die Psychologin Pauline Boss zurück und beschreibt einen Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. Einige der bekanntesten und am besten erforschten Beispiele sind die Trauer um Menschen mit Demenz, deren Persönlichkeit immer mehr verschwindet, oder die Trauer um Vermisste, von denen man annehmen muss, dass sie tot sind.“

Obwohl der Text nur so sprudelt vor Querverweisen von Sitcoms bis Roland ­Barthes, und immer wieder vom Privaten ins Gesellschaftspolitische springt, bleibt er strukturiert, tastet sich methodisch am Thema Einsamkeit/Alleinsein entlang, mit interessanten Referenzen, vor allem zu Texten weiblicher Autorinnen von Olivia Laing bis Audre Lorde. Anregend sind die Einladungen zum Weiter-Nachdenken: Über den Wert der Freundlichkeit, die Ambivalenz freundschaftlicher Beziehungen, das Konzept der queeren Scham oder das neoliberale Versprechen von „Self Care“. Bis hin zu der Frage, wie viele „unreal estates“, also konsuminspirierte Traumschlösser von einem guten Leben, man selbst so bewohnt.