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Innovativ, komplex, lokal geprägt

Im Portfolio der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao werden die sozialen Extreme des Landes sinnfällig, wie ihre Personalausstellung im Architekturzentrum Wien zeigt

Von Jacqueline Rugo

Beziehungen zu schaffen betrachten Ar­chi­tek­t*in­nen mittlerweile als eine ihrer zentralen Aufgaben. Empathie heißt das Stichwort, mit ihr wollen sie auf Bestehendes ebenso reagieren wie auf soziale, klimatische oder städtebauliche Veränderungen. Es geht darum, Entwicklungen zu verstehen, darauf zu antworten oder sie vielleicht sogar vorherzusehen. Dies ist die Herausforderung besonders beim Bauen in Lateinamerika. Sie ist durch die enorme Kluft zwischen Vermögenden und Besitzlosen bestimmt, die die Umweltkatastrophen und die Pandemie noch verschärft hat. Die wachsende soziale Ungleichheit spiegelt sich denn auch in den Projekten lokaler Architek*innen, die mit Entwürfen für Superreiche und Sozialwohnungen für die Ärmsten einem äußerst breiten Spektrum an Bedürfnissen und Herausforderungen gerecht werden wollen.

Am Portfolio von Tatiana Bilbao, die mit ihrem Architekturstudio in Mexiko-Stadt arbeitet, lassen sich diese Extreme besonders anschaulich ablesen: Planungen im sozialen Wohnungsbau und für städtische Nachverdichtung, Wiederaufbauprojekte und Reihen­haussiedlungen gehören ebenso dazu wie Einfamilienhäuser, Villen, eine Hotelanlage oder spektakuläre Konzeptionen für einen botanischen Garten, ein Aquarium und einen Pilgerweg. Eine Ausstellung über die vielgestaltigen Projekte der Architektin und ihres Teams wird derzeit im Wiener Architekturzentrum gezeigt. Die Präsentation, die in Kooperation mit dem Louisiana Museum of Modern Art entstand, zeigt insgesamt 23 Entwürfe, durch die sich Bilbao den Ruf als eine der innovativsten zeitgenössischen Ar­chi­te­k*in­nen erworben hat.

Tatiana Bilbao wurde 1972 in Mexiko-Stadt in eine Familie von Architekten hineingeboren. Nach Industriedesign studierte sie Architektur an der Universidad Iberoamericana in Mexiko. Gemeinsam mit ihrem Studienkollegen Fernando Romero begann sie bereits damals Kongresse und Vorträge zu organisieren, zu denen sie die Architekten einlud, die sie aufregend fand, wie Álvaro Siza, Rem Koolhaas und Tadao Andō. Von 1998 bis 1999 war Bilbao Beraterin für das Urban Housing and Development Department von Mexiko-Stadt. Gemeinsam mit Romero gründete sie das Büro LCM, das Laboratorio de la Ciudad de Mexico, das bis 2004 bestand. In diesem Jahr machte sie sich selbstständig und hat seither unter dem Namen Tatiana Bilbao Estudio eine Vielzahl von Aufträgen in China, Europa und Mexiko umgesetzt.

Einer ihrer ersten Aufträge war ein Ausstellungspavillon in China. Ai Weiwei und Herzog & de Meuron hatten international 17 junge Architekturbüros eingeladen, um für den Jinhua Architectural Park Pavillons zu entwerfen. Bilbao ließ sich bei ihrem Entwurf vom Gestaltungsprinzip chinesischer Gärten anregen: sie wickelte den Parkweg zu einem dreidimensionalen Knoten auf und umbaute diesen. Gemeinsam mit dem mexikanischen Konzeptkünstler Gabriel Orozco – und für ihn – entwarf sie 2007 die Casa Observatorio. Das einzigartige Gebäude entstand in Anlehnung an die Architektur einer Sternwarte in Indien. Ohne innere Verbindung zwischen den Räumen hat jedes Zimmer nur eine Tür nach außen. Das Dach, ursprünglich zum Beobachten der Sterne gedacht, wurde zum Pool. An einem sehr abgeschiedenen Platz in der steilen Felsküste von Puerto Escondido in Oaxaca wurde das Haus von einheimischen Arbeitern aus örtlichen Materialien gebaut. „Es war der schwierigste und spannendste Teil unserer Arbeit, dieses sehr spezielle Gebäude in einfache Materialien und Konstruktionsmethoden zu übersetzen. Wir mussten unsere Ideen vor Ort ständig ändern, damit sie unter diesen Bedingungen überhaupt baubar wurden, und am Ende entstand aus genau dieser Übersetzung ein großartiges Haus“, erzählt Bilbao.

Die Erfahrung der Zusammenarbeit mit einem Künstler und der engen Kooperation mit den Handwerkern sowie die Entscheidung für lokale Materialien und die grundsätzliche Überlegung, wie vor Ort gebaut werden kann, haben Bilbao nachhaltig geprägt.„In Mexiko haben wir es meist mit einer sehr, sehr einfachen Bauindustrie zu tun. Es gibt kaum Maschinen, und die Arbeiter sind oft sehr schlecht ausgebildet. Die meisten können nicht einmal lesen und schreiben, oft sind sie sehr jung, denn in Mexiko ist dein erster Job normalerweise auf einer Baustelle. Aber das sind die Bedingungen, unter denen Architektur in Mexiko entsteht, und seit dem Haus für Gabriel Orozco ist das der Ausgangspunkt meiner Architektur geworden. Es gibt meiner Meinung nach keinen Grund, in Mexiko mit unbekannten, fließenden Geometrien zu experimentieren. Gute, komplexe Architektur können wir auch mit einfachen Formen herstellen und mit den Technologien, die in Mexiko bekannt sind.“

Dass das Recht auf Schönheit nicht unbedingt eine Frage des Budgets ist, bewies Bilbao mit dem Prototyp eines kostengünstigen Hauses. Als sie von der mexikanischen Regierung beauftragt wurde, ein Kleinsthaus für arme ländliche Gemeinden zu entwerfen, entwickelte sie ein Modul für weniger als 6.000 Euro. Bewährt. nachdem 2015 ein Tornado die Stadt Ciudad Acuña verwüstete, kommen Varianten ihres Hauses inzwischen landesweit zum Einsatz.

Bilbao, die als einzige Frau in der Megastadt Mexiko ein eigenes Planungsbüro führt, sieht die Architektur historisch als Stütze des Kapitalismus. Dagegen setzt sie ihre Position, die ästhetisches Denken dem soziologischen gleichstellt: „Es geht um die Architektur, die wir machen können, und nicht darum, dass wir Ar­chi­tek­t*in­nen sind“, erklärte sie in einem Interview mit Jacques Herzog zur Frage des Generationswechsels und ihrer kollaborativen Arbeitsweise. Daher steht am Anfang jeder ihrer Planungen eine lange Phase des Austauschs mit den zukünftigen Bewohner- und Nutzer*innen, aber auch mit anderen Architekt*innen, Land­schafts­ar­chi­tek­t*in­nen und Künst­ler*innen.

Am Anfang der Planung steht der Austausch mit zukünftigen Nut­ze­r*in­nen

Die Konfrontation mit unterschiedlichen Ansätzen und Ideen ist für Bilbao wichtig, um ihr Einfühlungsvermögen zu schärfen und für die sich immer wieder verändernden Anforderungen offen zu bleiben. In der Kreativität aller am Bau Beteiligten sieht die Architektin ein enormes Potenzial, das in der Regel zu wenig genutzt wird. Auch die mexikanische Kultur und Kunst sowie tradi­tio­nelle Bautechniken, wie etwa die Verwendung von gestampfter Erde, spielen eine wichtige Rolle in ihren Bauplanungen. Außerdem müssen die Materialien lokal verfügbar sein. In ihrer Casa Ajijic, einem 2010/11 am Ufer des Chapala-Sees gebauten Wochenendhaus, verband Bilbao Stampflehmwände mit Beton und Pigmenten, um ein malerisches Schichtmuster in harmonischen Farbschattierungen zu erzeugen.

Natürliche Materialien und Fundstücke aus der Natur sind für die Architektin wichtige atmosphärische Hilfsmittel, um sich einem Ort im architektonischen Prozess zu nähern. Diesen Gedanken aufgreifend, setzt die Wiener Schau auch auf persönliche Interaktion und bietet in einem dicht bestückten „Kabinett der Neugierde“ die Möglichkeit, die „sinnlichen Bausteine“ von Tatiana Bilbao zu entdecken: Sand, Schotter, Marmorwürfel, Körbe, Strohhüte, Keramikfliesen, Stoffmuster Baumrinden, Korallen, Nüsse und in Fläschchen abgefüllte Erdproben warten darauf, von den Be­su­­che­r*in­nen aus Regalen und aus Schubladen hervorgeholt und in Bezug gesetzt zu werden mit den jeweiligen Bauprojekten. Arbeitsmodelle und Skizzen, die deren Prozess veranschaulichen, finden sich hier ebenso wie dokumentarische Fotos des niederländischen Fotografen Iwan Baan. Das alles passt gut in Bilbaos Konzept des gedanklichen Austauschs und der Synergie.

Tatiana Bilbao Estudio steht für Wissens- und Erfahrungstransfer zwischen Projekten mit großen finanziellen Ressourcen und sozialen Aufgaben. Die Wiener Ausstellung fokussiert größtenteils auf solche Projekte, die belegen, welchen Beitrag Architektur für die Gesellschaft leisten kann. In ihrem Portfolio finden sich aber neben mehreren Villen für sehr wohlhabende Bauherrschaften wie die Villa Ventura in den Wäldern über dem kalifornischen Monterrey auch das 2015–20 im Bundesstaat Baja California Sur erbaute Luxusresort Staterra, das abseits menschlicher Siedlungen in einer halbwüstenartigen Zone mit seinen zahlreichen Pools doch recht bizarr wirkt. Letztendlich sind es aber die partizipativen Planungsprozesse und die ambitionierten sozialen Wohnbaukonzepte, die das gesamte Planungsbüro so herausragend erscheinen lassen. Der ihr anfänglich angetragenen Rolle als Lückenbüßerin in der Männerdomäne Bauen ist die Architektin lange schon entwachsen.

Personalausstellungen von Architektinnen sind auch im Az W rar. Eine der wenigen war die Präsentation von Denise Scott Brown Ende 2018/19. Dass im Jahr des 25-jährigen Jubiläums eine lateinamerikanische Architektin zeigt, was Architektur kann, ist eine anerkennenswerte, wenn auch längst überfällige Entscheidung.

Bis 17. Januar 2022, Architektur Zentrum Wien. Katalog (Lars Müller Publishers) 45 Euro

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