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Birte Müller
Die schwer mehrfach normale Familie
: Dauer-Demo-Gefühl mit dem Widerstandstänzer

Diesen Sommer konnte ich mit meinem Sohn Willi wieder auf Mutter-Kind-Kur fahren. Ich brauchte dafür nur ein einziges Mal Widerspruch einzulegen und keinen Anwalt bemühen! Mit Widerspruch (bei der Krankenkasse und den Hausaufgaben meiner Tochter) kenne ich mich gut aus. Trotzdem finde ich beides immer wieder wahnsinnig anstrengend.

Wir waren im selben Kurheim wie immer: Bett, Klo, Betreuerinnen, sogar die Brot-und Käsesorten waren wie immer. Das fand Willi super. Wenn Willi etwas nicht super findet, ist mein Problem mit ihm nicht sein Widerspruch – er kann ja auch gar nicht sprechen –, sondern aktiver Widerstand. Gegen einen 14-Jährigen, der sich auf den Boden wirft und schreit, habe ich nichts aufzubieten, außer Geduld und Liebe.

Nur eins auf der Kur war neu: Ich hatte nur ein Kind dabei. Seit meinem Vor-Kinder-Leben hatte ich nicht so viel Zeit für mich allein. Ich konnte herumdaddeln und trotzdem noch Mittagsschlaf UND Sport machen (oder eben noch mehr herumdaddeln). Herrlich! Man hatte mir früher schon gepredigt, ich sollte MICH in den Mittelpunkt der Kur stellen. Doch Zeit mit meiner Tochter war mir nun mal noch wichtiger als Zeit für mich.

Mittlerweile ist Olivia unabhängiger geworden. Außerdem haben wir dank Corona wahrscheinlich deutlich mehr Zeit zu zweit verbracht, als es für eine Pubertierende und ihre Mutter gut ist. Ich hätte Olivia trotzdem gern mit auf die Kur genommen. Aber sie konnte auf Großfahrt mit ihren Pfadfinder-Mädels gehen. Das war bestimmt das Beste, was ihr passieren konnte: drei Wochen im Wald, ohne Erwachsene, ohne Geräte und ohne andere Verpflichtungen als die Selbstauferlegten ihrer Kultgemeinschaft – die im Übrigen weniger sektenartig ist, als ich befürchtet hatte. Es gibt weder Diplom-Knopfhölzchen noch musste sie ihren Eid auf „Gott und Vaterland“ schwören. Was genau sie bei ihrem geheimen Initialisierungsritus versprochen hat, weiß Olivia leider nicht mehr. Irgendwas mit „Verantwortung für Menschen und Natur“.

Was sie allerdings noch genau weiß, ist der Text ihres „Versprechens-Liedes“ aus der Zeremonie. Den hatte sie auch auf den Lippen, als sie nach der Fahrt ins Wohnzimmer marschierte und das Haus blitzschnell mit Rauchgeruch und Waldbodengebrösel füllte: „Revolution stand auf unseren Fahnen. Revolution stand uns im Gesicht. Wir haben erlebt, was andre nicht mal ahnen. Revolution – weniger wollten wir nicht.“ Mit glühenden Wangen saß sie mit der Gitarre auf dem Sofa, sang Protest- und Arbeiterlieder und erzählte, dass sie die ganze Reise über illegal im Wald geschlafen hätten.

Ich war auch stolz. Nicht nur, weil meine Tochter plötzlich Gitarre spielen konnte (sie zum Geigenunterricht zu bringen, hab ich nie geschafft). Auch wegen der Protestsongs war ich irgendwie stolz. Außer auf ein paar Demos habe ich schändlicherweise nie aktiv bei politischem Protest mitgewirkt. Trotzdem gefällt es mir, uns manchmal als Rebellen zu sehen. Wenn man ein Kind hat, das sich so wenig an die Norm anpassen kann wie Willi, dann schwimmt man zwangsläufig gegen den Strom. Das ist oft ziemlich anstrengend. Aber wenn man so sozialisiert ist wie ich – und einem alles, was vermeintlich alle tun, grundsätzlich suspekt vorkommt –, DANN hat dieses Lebensgefühl eben auch seinen Reiz. Ein bisschen wie auf einer Demo sein, nur leider einsamer.

Gerade neulich hatte ich dieses Demo-Gefühl, als ich mit dem nun voll geimpften Willi seine erste Fahrt in Öffis auf ein Konzert im Park antrat. Statt ein Plakat zu malen, habe ich für Willi ein T-Shirt bestempelt mit den Worten „Deine Chance für Toleranz“. Ich glaube zwar nicht, dass es am Shirt lag, aber an diesem Tag zeigten fast alle Menschen Verständnis für meinen wilden Willi, der lautstark versuchte, ihnen mitzuteilen, dass er auf ein Konzert mit Trompeten fuhr.

Die Ordner beim Konzert dagegen verstanden nichts, wahrscheinlich nicht mal den Sinn ihrer Hygieneregeln. Willi folgte auf dem Weg zum Platz nicht vorschriftsmäßig den Pfeilen auf dem Boden! Es war zwar sonst noch kein Mensch da, aber sie wurden trotzdem sofort aggressiv. So was aktiviert dann meinen Protestmodus. Willi stand während des Konzerts immer wieder auf, um vor seinem Stuhl etwas zu tanzen. Das war natürlich streng verboten! Ich sorgte zwar brav dafür, dass Willi sich immer wieder hinsetzte, aber sein ziviler Ungehorsam bereitete mir innerlich Genugtuung und ein schönes Ätschibätsch-Gefühl!

Birte Müller

48, ist Illustratorin, Autorin und Mutter von Willi (14) mit Downsyndrom und Olivia (12) mit Normalsyndrom. Im Februar hat sie das Kinderbuch „Wie krank ist das denn?“ mit Yannick de la Pêche veröffentlicht.

Was soll das auch: Unter freiem Himmel ein Tanzverbot in einem Swing-Konzert. Das ist doch geradezu unmenschlich! Es wäre genug Platz gewesen, um sich etwas zur Musik zu bewegen. Willi drückte aus, was viele fühlten und bald wurde ihm sogar vereinzelt zugejubelt, wenn er aufsprang. Die beiden Security-Glatzen jubelten gar nicht, aber ihre Drohgebärden machten auf Willi zum Glück keinen Eindruck. Nur ich bekam Angst.

Doch es lag ein Hauch Revolution in der Luft. Hätte man Willi gewaltsam vom Platz getragen, ich glaube es wäre ein offener Aufstand ausgebrochen und die anderen hätten solidarisch mitgetanzt. Trotzdem war ich erleichtert, als das Konzert vorbei war und ich wieder ganz allein mit meinem Rebellen um alltägliche Dinge wie den Weg zur U-Bahn-Station kämpfen konnte.