: Michelangelo in Berlin
Eine Mo(nu)mentaufnahme aus Anlass der neuen Monografie von Horst Bredekamp
Von Michael Diers
Der Renaissancekünstler Michelangelo ist in Berlin kein Unbekannter. Auf Streifzügen durch die Stadt begegnet einem zum Beispiel der Linienbus 200, der auf seiner Stirn leuchtend eine Fahrt zum Prenzlauer Berg und zur Haltestelle Michelangelostraße annonciert. Die Straße trägt ihren Namen seit dem 18. Februar 1964.
Damals, am 400. Todestag des Künstlers, wurde der Verlängerten Ostseestraße „in einem feierlichen Akt“ dieser prunkvolle Name verliehen. Da ist das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen, das eine originale Zeichnung des Meisters und einige Kopien von Schülerhand zu seinen Schätzen zählt. Da ist in Mitte die Humboldt-Universität, an deren Institut für Kunst- und Bildgeschichte Horst Bredekamp in seinen Michelangelo-Vorlesungen über Jahre ein breites und begeistertes Publikum mit dessen Werk vertraut gemacht hat. Ferner ist da die italienische Botschaft am Tiergarten, die ihre Tore regelmäßig für Veranstaltungen zur Kultur des Landes öffnet. Und da ist – last but not least – in Wilmersdorf der Verlag Klaus Wagenbach, der seit seiner Gründung einen Italienschwerpunkt in Sachen Literatur, Kunst und Kunstgeschichte pflegt.
Horst Bredekamp
„Michelangelo". Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021, Quartformat, 816 Seiten, 900 meist farbige Abbildungen, Subskriptionspreis bis zum 31. 12. 2021 89 Euro, danach 112 Euro.
Wenn sich jetzt, wie kürzlich, das Kupferstichkabinett, die Botschaft und der Verlag mit dem Autor zusammetun, um dessen neues, im doppelten Wortsinn gewichtiges, um nicht zu sagen monumentales Buch mit dem knapp gehaltenen, aber unzweideutig sprechenden Titel „Michelangelo“ vorzustellen und im Museum durch einen öffentlichen Vortrag samt Diskussion sowie Speis und Trank im Festsaal der Botschaft zu feiern, dann wird klar, dass der neben Leonardo und Raffael namhafteste Künstler der westlichen Welt, der bereits zu Lebzeiten den Beinamen „il divino“ (der Göttliche) trug, in Berlin tatsächlich ein Zuhause hat. Der Berliner Kunsthistoriker hat der Darstellung von Leben und Werk des in sämtlichen Gattungen – Zeichnung, Malerei, Skulptur und Architektur – herausragenden Künstlers, der darüber hinaus ein begabter Dichter war, eine fulminante, über 800 Seiten umfassende Monografie gewidmet.
Ziel von Bredekamps Publikation ist es, die klassische Biografie hinter sich zu lassen und zu einer Darstellung zu gelangen, welche die Betrachtung und Analyse der Werke und ihrer Formensprache ins Zentrum rückt, ohne die Schilderung der Vita und Zeitgeschichte zu vernachlässigen. Statt einer Helden- und Genie-Erzählung, wie es die Gattung der Biografie nahelegt, sollen die Kunstwerke das Leben erläutern und nicht umgekehrt.
Das ist einfacher gesagt als getan, denn die ausgetretenen Pfade der Gattung Monografie kommen in der Regel ohne Hymnen und Huldigungen nicht aus. Lässt man hingegen die Kunstwerke sprechen, indem man sie präsentiert und analysierend beschreibt (und über zahlreiche Abbildungen vor Augen stellt), dann entgeht man mit einer Werkmonografie der Falle der biografischen Nacherzählung. Michelangelo hat, wie es viele Selbstäußerungen nahelegen, seine Kunst ebenfalls wichtiger als die eigene Vita genommen, das eine zumindest dem anderen nachgeordnet.
Dass auch Bredekamp einer gewissen Heroisierung seines Gegenübers nicht ganz entkommt, ist angesichts des hohen Rangs und der enormen Wirkungsgeschichte Michelangelos, kurz seiner immensen Strahlkraft verzeihlich. Kann man gleichzeitig Abstand halten und auf Augenhöhe mit seinem Forschungsgegenstand sein? Wichtig sind die Resultate, und wichtig ist der daraus gewobene Lesestoff. Beides empfiehlt sich neben der hervorragenden Ausstattung der Lektüre. Allerdings muss man Zeit aufbringen, sich einen ruhigen Leseplatz suchen, dann vielleicht noch kurz die Krawatte richten, wie Walter Benjamin aus Anlass einer Buchwürdigung einmal angemerkt hat, und sich in diesen großformatigen Band vertiefen, der nach außen hin einer Haus- oder Familienbibel gleicht. Wenn man dann nach vierzehn Tagen wieder den Kopf hebt, sieht die Welt plötzlich anders aus. Nicht nur diejenige der Kunst, denn Michelangelo war nicht nur Künstler, sondern auch Diplomat und engagierter Zeitgenosse, der mit seinem Werk zur Veränderung, sprich Korrektur der geläufigen Anschauung der Welt beitragen und diese von bis dato gültigen ästhetischen Normen befreien wollte.
In der Michelangelostraße sammelt unterdessen ein Verein zur Verbesserung der Lebensqualität Unterschriften für eine „behutsame“ statt der vom Senat geplanten „immensen“ baulichen Verdichtung. Man könnte sich dort, um das Schlimmste zu verhindern, auf den mächtigen Namenspatron und dessen hohe Ansprüche an die Baukunst berufen. Ähnlich war bereits Andreas Schlüter erfolgreich als Baumeister des Schlosses, jüngst als Humboldt Forum wieder auferstanden, das er in Anlehnung an einen der römischen Staatsbauten Michelangelos entwarf.
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