Außerschulischer Bildungssektor in China: Ende des Nachhilfebooms

Chinas Vorgehen gegen Nachhilfe­unternehmen vernichtet Milliarden an Unternehmensgewinnen. Doch es soll das Bildungssystem gerechter machen.

Polizist gestikuliert, während Schüler mit Mund-Nasen-Schutz Schlange stehen, um eine Schule für den ersten Tag der nationalen Hochschulaufnahmeprüfungen Chinas, bekannt als Gaokao, zu betreten

Lebensverändernder Tag: Schü­le­r*in­nen stehen Schlange, um eine Schule für den Gaokao zu betreten Foto: Andy Wong/AP

PEKING taz | Der Schock an den Börsen war derart massiv, dass Experten von der Hinrichtung einer boomenden Branche sprechen: Sämtliche Aktien von chinesischen Nachhilfefirmen haben seit dem Wochenende mindestens die Hälfte ihres Werts verloren. Am Samstag hatten Chinas Staatsmedien die neuen Regularien für die Nachhilfebranche, einen der erfolgreichsten Wirtschaftszweige des Landes, angekündigt.

Demnach sind außerschulische Bildungsangebote künftig während Ferienzeiten und an Wochenenden generell verboten. Vor allem aber soll Nachhilfe kein Geschäft mehr sein: Neue Konzerngründungen sind künftig untersagt, bereits bestehende Firmen müssen sich als „gemeinnützig“ registrieren lassen. Im chinesischen Recht bedeutet dies vor allem, dass die Gewinne nicht an die Firmenbesitzer fließen. Zudem dürfen die Konzerne generell kein Kapital mehr lukrieren, ergo auch nicht wachsen.

Aus kapitalistischer Sicht mag es kontraproduktiv erscheinen, in solch radikalem Ausmaß Unternehmensgewinne zu vernichten. Doch tatsächlich ist das Vorgehen Pekings durchaus konsistent. Denn die Zerschlagung des Nachhilfesektors greift ein real existierendes Problem mit weitreichenden Folgen auf.

In einer E-Mail-Notiz der Wirtschaftsberatung Trivium China heißt es: Der rasant wachsende Nachhilfesektor habe teilweise öffentliche Schulen als Hauptanbieter von Bildung abgelöst, ohne jedoch der behördlichen Aufsicht unterstellt zu sein. Zudem hätten Nachhilfeunternehmen gezielt die Angst der Eltern geschürt, dass ihre Zöglinge im Hamsterradrennen um die besten Uni- und Arbeitsplätze nicht mithalten können, um ihr Geschäft anzukurbeln.

Lebensbestimmender Test

Denn der Lebensweg junger Chinesen entscheidet sich maßgeblich beim sogenannten Gaokao; der Universitätseingangsprüfung, die jeder Oberschüler für eine Tertiärbildung absolvieren muss. Wer den mehrtägigen Test mit einer guten Note abschließt, kann auf eine Einschreibung an einer der renommierten Unis in Peking oder Schanghai hoffen.

Daran sind nicht nur eine gute Ausbildung geknüpft, sondern auch Karrierenetzwerke sowie der Zugang zum sogenannten Hukou – dem Bürgerrecht, das es erlaubt, am Sozialsystem einer Stadt zu partizipieren. Kurzum: Eine Prüfung bestimmt nachhaltig über das gesamte Leben.

Dementsprechend massiv ist der Konkurrenzkampf um die begehrten Uniplätze. Er führt unter anderem dazu, dass 16-jährige Chinesen oftmals eine Arbeitslast wie durchschnittliche Vorstandschefs von DAX-Unternehmen stemmen. Und laut Angaben der Chinese Society of Education nähmen in den Metropolen Peking, Schanghai, Guangzhou und Shenzhen rund sieben von zehn Schülern bis zur 12. Klasse Nachhilfeunterricht in Anspruch.

Das hat wiederum massive Auswirkungen auf die öffentlichen Schulen: Die qualifiziertesten Lehrer in China sind längst in den Nachhilfemarkt abgewandert, weil es dort die sattesten Löhne zu holen gibt. Nicht zuletzt bestimmt dadurch immer stärker das Einkommen der Eltern über die Bildungschancen der Zöglinge.

Südkorea hat ähnliche Probleme

Das benachbarte Südkorea hat mit einem ähnlich ausufernden Nachhilfemarkt zu kämpfen. Doch bislang sind etliche Regierungen trotz unzähliger Reformversuche daran gescheitert, dessen Macht zu beschneiden. Denn jede Maßnahme wird zugleich mit massiven Protesten besorgter Eltern begleitet, die Nachteile für die Bildung ihrer Kinder befürchten. Chinas Staatsführung kann hingegen autoritär regieren, ohne auf innere Checks and Balances achten zu müssen.

Letztendlich handelt Peking aus langfristigem ökonomischem Kalkül. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua werden die neuen Regularien mit dem demografischen Wandel begründet: Die hohen Bildungskosten seien die größte Hürde dafür, mehr als ein Kind großziehen zu wollen. Und die niedrigen Geburtenraten wertet Pekings Staatsführung als die größte Bedrohung für den ökonomischen Aufstieg der Volksrepublik.

Dabei setzen die Maßnahmen vor allem bei den Symptomen eines gesellschaftlichen Übels an. Dessen Ursachen bleiben unangetastet. Die reichen Eltern der chinesischen Oberschicht werden wohl andere – und auch illegale – Wege finden, um ihren Kindern weiterhin einen Startvorsprung beim gesellschaftlichen Hamsterradrennen zu verschaffen.

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