„Zynisch und völlig inakzeptabel“

Die Taliban rücken in Afghanistan immer weiter vor. Die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen fordert die „rasche koordinierte Evakuierung“ früherer Helfer Deutschlands

Rückzug: Die Bundeswehr hat Afghanistan verlassen Foto: Fo­to:­Torsten Kraatz/dpa

Von Pascal Beucker

Mit Ratlosigkeit reagiert die Bundesregierung auf den anscheinend unaufhaltsamen Vormarsch der Taliban in Afghanistan. „Die Meldungen aus Kundus und aus ganz Afghanistan sind bitter und tun sehr weh“, teilte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Montag in einer Erklärung mit. Die Bundeswehr habe am Hindukusch „alle Aufträge erfüllt, die ihr der Deutsche Bundestag gegeben hat“, so die CDU-Politikerin. „Was wir augenscheinlich nicht erreicht haben, ist ein dauerhaft und umfassend zum Positiven verändertes Afghanistan.“ Für die Ziele künftiger Auslands­einsätze „sollten wir daraus lernen“. So kann man ein Desaster auch umschreiben.

Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai haben die Taliban nach und nach immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Alleine am vergangenen Wochenende nahmen sie vier Provinzhauptstädte ein. Auch die strategisch wichtige Großstadt Kundus, in dessen Nähe jahrelang die Bundeswehr stationiert war, ist weitgehend in der Hand der islamistischen Fanatiker. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie auch in Kabul wieder die Macht übernehmen.

„Ich bin extrem besorgt über die sich verschlechternde Lage in Afghanistan“, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths in einer Stellungnahme am Montag. Im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden. „Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer“, sagte der für Afghanistan zuständige Unicef-Repräsentant Hervé Ludovic De Lys. Laut Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen wurden in den vergangenen drei Tagen in den afghanischen Provinzen Kandahar, Chost and Pakria mindestens 27 Kinder getötet. 136 weitere Minderjährige seien verletzt worden.

„Die Bilder vom raschen Vorrücken der islamistischen Taliban belegen nachdrücklich das klägliche Scheitern der Bundeswehrintervention im 20 Jahre dauernden Nato-Krieg in Afghanistan“, konstatiert die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen. „Es ging entgegen allen Kriegslügen nie um Menschenrechte, sondern allein um finsterste Geopolitik“, sagte Dağdelen der taz. Das zeige sich jetzt auch in eklatanter Weise im Umgang mit den ehemaligen Ortskräften, die für die Bundeswehr und andere deutsche Stellen in Afghanistan gearbeitet haben. Notwendig sei die „rasche koordinierte Evakuierung“ der einstigen Helfer und deren Familien. Stattdessen jedoch verhandele die Bundesregierung mit den Taliban über eine vermeintliche Sicherheitsgarantie für sie. Das sei „zynisch und völlig inakzeptabel“.

Bisher haben 333 frühere Ortskräfte mit 1.342 Angehörigen einreisen können

Scharf kritisiert Dağdelen auch, dass die Bundesregierung nur einem begrenzten Kreis der ehemaligen Ortskräfte einen Anspruch auf Ausreise nach Deutschland zubillige. „Möglichst wenig Ortskräfte aufnehmen zu wollen, ist ein weiterer Beleg für das zynisch schäbige Kalkül der Bundesregierung bei ihrem Afghanistanfeldzug“, sagte sie.

Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums haben bisher 333 frühere Ortskräfte mit 1.342 Familienangehörigen nach Deutschland einreisen können. Sie erhalten aber zunächst nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Viele hoffen noch, ihnen folgen zu können.

Als antragsberechtigt gelten nur diejenigen Ortskräfte, die in den vergangenen zwei Jahren direkt bei einer deutschen Stelle angestellt waren, zum Beispiel dem Auswärtigen Amt oder dem Entwicklungshilfeministerium. Wer für das Verteidigungs- oder das Innenministerium gearbeitet hat, für den gilt ein etwas längerer Zeitraum. Während die USA und Großbritannien auch nicht direkt Beschäftigte akzeptieren, reicht Deutschland die Tätigkeit für ein Subunternehmen nicht aus – obwohl sich die Taliban nicht für den Arbeitsvertrag interessieren, sondern dafür, ob man den westlichen Kräften geholfen hat. Für die Ausreise wird ein Visum des afghanischen Staates benötigt. „Es gibt da offensichtlich gerade einen Engpass“, sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums am Montag. „Die afghanischen Behörden schaffen es nicht, die Passpapiere in der nötigen Geschwindigkeit auszuteilen.“