: Schuldfrage nicht geklärt
Im Berliner Hauptbahnhof sind momentan Porträts zu sehen, die der Fotograf Luigi Toscano von Holocaust-Überlebenden aufgenommen hat. Die Rolle der Reichsbahn bei den Todestransporten wird dabei einfach totgeschwiegen
Von Eva-Lena Lörzer
Ich stehe im Hauptbahnhof hinter einem Absperrband neben Beamten der Bundespolizei und Bahnmitarbeitern und versuche, jedes Wort von Margot Friedländer zu verstehen. In dem Moment, in dem die 99-Jährige, deren Vater, Mutter und Bruder aus Berlin deportiert und in Konzentrationslagern ermordet wurden, ihre Rede mit einem Appell an die Umstehenden beendet, das Gehörte nach dem Versterben der letzten Zeitzeug*innen weiterzugeben, fliegt eine braune Taube über die Köpfe der Umstehenden. Taube, Kofferrollen und Lautsprecherdurchsagen machen es schwer, Margot Friedländer zu folgen.
Die Überlebende ist Ehrengast der Eröffnung der Ausstellung „Gegen das Vergessen“ im Hauptbahnhof. Coronabedingt ist die Fotoausstellung, für die der Mannheimer Fotograf Luigi Toscano über fünf Jahre lang mehr als vierhundert Überlebende des Holocaust porträtiert hat, bereits zweimal verschoben worden. Eigentlich wollte die Bahn seine großformatigen Bilder bereits am 9. November 2020 zeigen. Erst am Berliner Hauptbahnhof, dann an 19 weiteren großen Bahnhöfen in Deutschland. Nun findet die Eröffnung im kleinen Rahmen statt. Nur Pressevertreter*innen mit Einladung können teilnehmen.
Für die Bahn von Vorteil
Für die Bahn, denke ich, während ich den Reden aus Abstand folge, hat der coronabedingte Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit einen großen Vorteil: Niemand stellt unangenehme Fragen. Ich hätte den Bahnchef Richard Lutz zu gerne zu seinem Verständnis von historischer Verantwortung befragt. Dass die Deutsche Bahn eine historische Verantwortung hat, räumt er in seiner Rede selbst ein: „Weil wir um unsere historische Verantwortung wissen, unterstützen wir diese bewegende Ausstellung.“ Die Deutsche Bahn wolle damit ein Zeichen setzen: gegen Antisemitismus und Ausgrenzung. Darüber, was die Deutsche Bahn bislang sonst getan oder nicht getan hat, um ihrer besonderen historischen Verantwortung gerecht zu werden, spricht er nicht.
Er verliert selbstverständlich auch kein Wort des Bedauerns darüber, dass die Reichsbahn sich an den Todestransporten bereicherte, indem sie die Opfer für ihre Fahrt in die Vernichtungslager 4 Reichspfennig pro Kilometer für Erwachsene und 2 für Kinder zwischen vier und zehn Jahren zahlen ließ. Kein Wort darüber, dass die Deutsche Bahn sich jüngst erneut dagegen entschieden hat, Überlebende des Holocaust finanziell zu entschädigen. Mit der Begründung, dass die Bahn AG nicht die Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn sei. Ein niederländischer Holocaustüberlebender hatte durchgesetzt, dass die niederländische Bahn rund 7.000 ermittelten holländischen Opfern und ihren Angehörigen für die Deportationen zur Grenze etwa 50 Millionen Euro Entschädigung zahlt.
Über eine Stunde warte ich während der Ausstellungseröffnung darauf, dass jemand näher auf die historische Verantwortung der Deutschen Bahn eingeht. Dass jemand sagt, dass es gut sei, dass die Bahn sich gegen das Vergessen einsetze. Aber dass sie auch eine moralische Verantwortung gegenüber den Überlebenden habe. Egal, ob sie die juristische Nachfolgerin der Reichsbahn ist oder nicht. Schließlich hat die Deutsche Bahn nicht nur die Schienen, sondern auch das Vermögen der Reichsbahn übernommen. Nichts dergleichen geschieht. Am Ende fragt die Pressesprecherin der Bahn Toscano, was die Überlebenden zu den Ausstellungen in deutschen Bahnhöfen gesagt hätten. Er antwortet: „Da gab es welche, die sich gefreut haben, dass die Bilder so eine große Öffentlichkeit bekommen.“ Und dann: „Bei anderen kamen da natürlich Erinnerungen hoch.“ Die Sprecherin fragt nur: „An die Gleise?“ Toscano nickt.
„Gegen das Vergessen“, Berlin Hauptbahnhof, bis zum 14. Juli
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