: Sie waren jetzt einfach dran
In einem dramatischen Elfmeterschießen setzt sich Italien gegen England im Finale der EM durch – letztlich auch verdientermaßen. Für Trainer Roberto Mancini kein zufälliger Erfolg
Aus London Hendrik Buchheister
Gianluigi Donnarumma zeigte keine Regung, ganz so, als würde er ständig eine ganze Nation zum Schweigen bringen. Der 22 Jahre junge Torwart der Italiener hatte im Elfmeterschießen des EM-Endspiels gegen England den entscheidenden Versuch von Bukayo Saka pariert, seine Mannschaft damit zum Europameister gemacht und den Traum der Engländer zertrümmert, im heimischen Wembley-Stadion den ersten Titel seit dem WM-Erfolg von 1966 zu feiern. Doch anstatt aufzuspringen, die Fäuste in den Nachthimmel zu recken und jubelnd davon zu stürmen, wirkte Donnarumma ungerührt, fast versteinert. In seinem Gesicht war kein Zeichen von Emotion zu erkennen. Und vielleicht beschreibt das ganz gut, dass die Italiener mit dem EM-Triumph ihr altes Selbstverständnis wieder hergestellt haben. Nach der verpassten WM in Russland sind sie wieder dort, wo sie nach eigener Auffassung hingehören, nämlich nach ganz oben.
Wobei das Italien von 2021 ein anderes ist als das der Vergangenheit. Dieses Italien lebt nicht von zynischer Defensivkunst, sondern hat mit sehenswertem Angriffsfußball begeistert, phasenweise zumindest. In der Vorrunde gewann die Mannschaft alle drei Spiele mit insgesamt 7:0 Toren. Im Achtelfinale gegen Österreich musste sie sich in der Verlängerung durchbeißen, ehe sie im Viertelfinale Belgien, Spitzenreiter der Weltrangliste, in einem der besten Spiele des Turniers bezwang. Im Halbfinale gegen Spanien und im Endspiel gegen England war jeweils das Elfmeterschießen nötig, doch dass Italien beide Male gewann, steht für die Nervenstärke des Teams und die Fähigkeit, in großen Momenten große Leistung zu zeigen. Italien ist verdient und folgerichtig Europameister, daran kann es keine Zweifel geben.
Was nicht bedeutet, dass der Sieg im Finale nicht zeitweise in Zweifel gestanden hätte. Die Mannschaft lag nach nicht einmal zwei Minuten zurück – nach dem frühesten Treffer in einem EM-Endspiel durch Luke Shaw –, war eine halbe Stunde lang nicht im Spiel. Italiens Spieler wirkten ratlos, auf den Rängen stützten einige Fans den Kopf auf die Hände, als ahnten sie, dass die sensationelle Serie von bis dahin 33 Spielen ohne Niederlage im Londoner Regen enden würde. Doch die Mannschaft riss die Kontrolle an sich und war in der zweiten Hälfte die klar bessere Mannschaft. 61 Prozent Ballbesitz, 758 zu 340 erfolgreiche Pässe, 20 zu 6 Torschussversuche über die ganze Spielzeit – das sind Zahlen deutlicher Überlegenheit. Schon in den regulären 90 Minuten hätte mehr Ertrag herausspringen können als nur der 1:1-Ausgleich von Leonardo Bonucci in der 67. Minute. Die Krönung im Elfmeterschießen war dann um so dramatischer, die Erleichterung um so größer.
Der Mann, der Italien zum zweiten Mal nach 1968 zum Europameister gemacht hat, ist Roberto Mancini, der Trainer. Er kam nach der verpassten WM in Russland ins Amt und trat an mit einem Versprechen: Er wolle Italien dorthin zurückbringen, wo es hingehöre, an die Spitze Europas und der Welt. Der EM-Titel sei das erste Ziel. Dieses Ziel hat er erreicht und damit auch persönliche Geister vertrieben. Mancini, 56, war ein prägender Spieler in den 80ern und 90ern bei Sampdoria Genua und Lazio Rom, gewann Meisterschaften und Pokale. Auch als Vereinstrainer hat er eine illustre Biografie vorzuweisen. Unter anderem führte er Inter Mailand zu drei Titeln und machte Manchester City 2012 zum ersten Mal in der Ära von Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan zum englischen Champion.
In der Nationalmannschaft allerdings blickt Mancini auf eine seltsam unvollendete Karriere zurück mit nur 36 Länderspielen und ohne Titel. „Ich war jetzt einfach dran“, sagte er nach dem EM-Erfolg.
Und es passte, dass er diesen in London erlebte, in Wembley, dem Ort einer seiner größten Niederlagen. 1992 verlor Mancini dort mit Sampdoria das Finale des alten Europapokals der Landesmeister 0:1 gegen den FC Barcelona. Mit im Team damals: seine heutigen Assistenten Gianluca Vialli und Attilio Lombardo. Es ist kein Wunder, dass sich das italienische Trainerteam nach der entscheidenden Parade von Donnarumma in die Arme fiel. Italiens Spieler stürmten auf ihren Torwart zu. Nur Donnarumma selbst, der blieb ungerührt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen