: „Vermieter*innen wollen mich nicht“
Die Stadt Hannover hat Menschen online zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit befragt und dabei auch Betroffene selbst einbezogen. Lokale Initiativen kritisieren, dass in den Fragen teilweise Vorurteile reproduziert wurden, die Menschen ohne Wohnung als Störfaktor darstellen
Von Michael Trammer
Am Sonntagmittag sitzt Dieter Boschin* mit einem Freund in der Sonne an der Christuskirche in der Nordstadt von Hannover. Sein Hemd ist leicht aufgeknöpft, sein Auftreten sehr gepflegt. Boschin ist 59 Jahre alt und wohnungslos. Er lebt in einer Unterkunft der Stadt, hat dort ein Einzelzimmer ergattert. Seit einem Jahr und acht Monaten ist er schon auf der Suche nach einer eigenen Wohnung. Er habe Inserate in der Zeitung geschaltet, einen Makler engagiert und richtig Geld in die Wohnungssuche gesteckt. Einfach alles habe er versucht, sagt er. Eine Wohnung hat er trotzdem nicht. „Der Wohnungsmarkt in Hannover ist beschissen”, sagt Boschin.
Wie ihm geht es in Hannover zahlreichen Wohnungs- und Obdachlosen. Das zeigt eine Online-Umfrage der Stadt Hannover. Als Teil des Bürger*innenbeteiligungsverfahrens „Innenstadtdialog” will die Stadtverwaltung bis Herbst eine Gesamtauswertung zum Thema Wohnungslosigkeit erstellen. Die hohe Beteiligung persönlich Betroffener ermögliche es, an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Angebote zu entwickeln, sagt Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne).
Insgesamt nahmen etwa 1.400 Einwohner*innen von Hannover an der Umfrage teil. 331 davon gaben an, keinen festen Wohnsitz zu haben. Davon gaben 211 als Geschlecht „männlich“ an, 59 „weiblich“ und vier „divers“. Um auch Menschen ohne Zugang zu einem Smartphone und Internet zu erreichen, schickte die Stadt bei der Befragung 16 mehrsprachige Interviewer*innen in acht Teams an 20 Orte, die als Anlaufstellen für Obdach- und Wohnungslose gelten.
Die Ergebnisse unter den Betroffenen: Knapp 50 Prozent der Befragten sagten, Wohnungen in Hannover seien zu teuer. 42 Prozent gaben an, Schulden zu haben und empfinden es als schwierig, alleine der Obdachlosigkeit zu entkommen – sie benötigen also sozialarbeiterische Unterstützung. Mehrsprachig solle diese sein. Etwa 37 Prozent wählten die Antwort: „Vermieter*innen wollen mich nicht.”
Boschin hatte von der Umfrage bisher nichts mitbekommen. Doch seine Kritikpunkte und Probleme decken sich mit den Befragungen. „Es gibt einfach keine Wohnungen, die man sich leisten kann. Die Preise gehen einfach über dein Limit”, sagt er. Sozialarbeiter*innen könnten zwar unterstützen, aber man müsse selbst dranbleiben, sonst entkomme man der Wohnungslosigkeit nicht.
Etwa 23 Prozent der durch die Stadt Befragten gaben an, wie Boschin in einer festen Unterkunft zu leben. Rund 27 Prozent nehmen Notunterkünfte in Anspruch. Zwölf Prozent der Antwortenden waren Frauen, die in Frauenhäusern Zuflucht suchen. Etwa 15 Prozent Menschen, die in verdeckter Wohnungslosigkeit leben, also beispielsweise bei Freund*innen auf der Couch. Ein Viertel gab an, „irgendwo draußen” zu schlafen.
Für Oberbürgermeister Onay zeigt die Umfrage, dass neuere Angebote, beispielsweise Housing-First-Projekte, das Modellprojekt Plan B OK und Straßensozialarbeit speziell für Frauen in die richtige Richtung gingen. „Gleichzeitig wird aber auch der Handlungsbedarf sichtbar, etwa beim Thema Mehrsprachigkeit von Beratungs- und Unterstützungsangeboten.“ Diese Formate ermöglichten es, die Menschen noch passgenauer zu unterstützen, sagt Onay weiter.
Laut Sozialdezernentin Sylvia Bruns (FDP) werde durch die Umfrage bereits vorhandenes Wissen und Erkenntnisse über die Situation und Lebenslage wohnungsloser Menschen, sowie über die Vielfalt der Haltungen zum Thema Wohnungslosigkeit ergänzt.
Doch es gibt auch Kritik: „Intransparent und stigmatisierend“, nannten das Bündnis Armut stinkt und der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) den Aufbau der Umfrage. Die Stadt hatte einen Filter eingebaut. Je nachdem, wie Teilnehmende die Frage beantworteten, ob sie wohnungslos seien, folgten unterschiedliche Folgefragen.
„Die Frage, ob und wo wohnungslose Menschen im Stadtbild wahrgenommen werden, macht weis, man könne den wohnungslosen Menschen schon im Vorbeigehen erkennen“, heißt es von den beiden Initiativen in einer Pressemitteilung.
Ein weiteres Beispiel für die stigmatisierenden Tendenzen habe sich dadurch gezeigt, dass lediglich die Teilnehmenden, die eine Wohnung haben, nach ihrem ehrenamtlichen Engagement gefragt wurden und dabei keine Beachtung fand, dass sich viele wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen selbst stark ehrenamtlich engagierten.
Die Stadt fragt auch, wie Hilfsangebote in der Nachbarschaft wahrgenommen werden. Armut stinkt kritisiert dabei vor allem eine Antwortmöglichkeit: „Grundsätzlich gut, aber ich sorge mich um Probleme in der Nachbarschaft.“ So würden diskriminierende Vorurteile, die wohnungslose Menschen als Störfaktor darstellten, reproduziert. „Damit bleibt gänzlich unbeachtet, dass nicht der wohnungslose Mensch an sich ein Problem ist, sondern die (elendigen) Lebensverhältnisse, denen wohnungslose Menschen ausgesetzt sind, wie zum Beispiel die kriminalisierende Drogenpolitik oder neoliberale Wohnungspolitik“, schreiben die Verfasser*innen weiter.
Bündnis Armut stinkt
Die Stadt hat bereits auf die Äußerungen reagiert: „Wir haben die Kritik als weitere Haltung zu dem Thema aufgenommen und setzen uns damit gerne auseinander“, heißt es. In keiner Weise sei es die Absicht gewesen, Stigmatisierungen und Vorurteile zu reproduzieren. Die Umfrage ziele – ganz im Gegenteil– darauf ab, die hannoversche Bevölkerung beim Thema Wohnungslosigkeit in ihrer gesamten Vielfalt und Bandbreite zu beteiligen – insbesondere die wohnungslosen Menschen selbst.
Im Juli startet ein sogenanntes Bürgerpanel, bei dem 2.800 durch eine Zufallsstichprobe ausgewählte Einwohner*innen vertreten sind, die einen nach Alter und Geschlecht repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 18 Jahren darstellen. Seit 2012 findet diese Befragung regelmäßig zu verschiedenen Themen statt. Bei der Konzeption der Fragen für das Panel sei nun besondere Achtsamkeit bei der Formulierung sehr wichtig gewesen, heißt es von der Pressestelle der Stadt.
Die Umfragen werden ergänzt durch einen Runden Tisch zum Thema, bei dem die Stadt immer wieder soziale Träger*innen, Verbände, Vertreter*innen der Wohnungslosenhilfe und Betroffene zum Dialog einlädt. Im Herbst sollen dann ein Abschlussbericht und Handlungsperspektiven vorgelegt werden.
Für Dieter Boschin kann es nur eine Lösung der Situation geben: „Die Politik muss handeln und nicht nur versprechen. Wir brauchen mehr Sozialwohnungen.” In der gesamten Stadt sehe er immer wieder Leerstand – neue und alte Gebäude. Wenn nichts geschehe, bleibe Betroffenen nichts anderes übrig, als diese Leerstände im Winter zu besetzen. „Corona verlangt einem viel ab. Es sind knallharte Zeiten.”
*Name geändert
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