: Die Schande Europas
Weltweit waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie zurzeit. Die meisten sind Binnenflüchtlinge, nach Europa kommen nur wenige. Trotzdem schottet die Europäische Union ihre Außengrenzen mit viel Geld und modernster Sicherheitstechnik immer stärker ab
Von Ansgar Warner
Am 20. Juni ist „Weltflüchtlingstag“. Noch nie war der Titel stimmiger: Derzeit sind so viele Menschen wie noch nie auf der Suche nach einem Refugium. Etwa 80 Millionen Menschen weltweit, ungefähr ein Prozent der gesamten Weltbevölkerung, die meisten davon sind Binnenflüchtlinge, bleiben also im eigenen Land. Die genaue Zahl wird man am 20. Juni dem Jahresbericht des UNHCR entnehmen können. Also jener für Flüchtlinge zuständigen Organisation der Vereinten Nationen, die für die Ausrichtung des Weltflüchtlingstags verantwortlich ist.
Wie dramatisch die aktuelle Lage allein an den EU-Außengrenzen ist, zeigen Medienberichte der letzten Wochen: steigende Opferzahlen auf der lebensgefährlichen Mittelmeerroute, überfüllte Sammellager in Griechenland, überrannte Grenzanlagen und gewaltsame Pushbacks in der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla.
Als der UNHCR vor siebzig Jahren gegründet wurde, war die Hauptursache für die Menschenströme noch „made in Germany“. Schließlich hatte der vom Deutschen Reich ausgelöste Zweite Weltkrieg so viele Menschen ihrer Heimat beraubt wie noch nie zuvor. Inzwischen sind neben bewaffneten Konflikten viele weitere Ursachen von Flucht und Vertreibung hinzugekommen. Die meisten davon hängen mit dem menschengemachten Klimawandel zusammen: etwa Dürren, Missernten, Unwetter, steigende Meeresspiegel.
Deutschland und die anderen EU-Staaten gehören zwar zu den Hauptverursachern der Erderwärmung, gegen die Folgen schotten sie sich jedoch immer stärker ab. Das hat auch mit den politischen Folgen der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 zu tun. Alleine hierzulande beantragten damals mehr als 1,1 Millionen Frauen, Männer und Kinder Asyl. Meist Menschen, die aus dem umkämpften Norden Syriens stammten.
Der plötzliche Zustrom löste eine Welle der Sympathie und tatkräftigen Hilfe aus der Mitte der Zivilgesellschaft aus. War es anfangs buchstäblich Nothilfe, so ging es bald um die Unterstützung bei der Integration in den Kommunen. 2018 kam eine Studie des Bundesfamilienministeriums zu einer erfreulichen Bilanz: Seit 2015 hatten 55 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren Flüchtlinge in Deutschland unterstützt. Ende 2017 waren noch knapp 20 Prozent aktiv. Das Engagement reichte von Geld- oder Sachspenden bis hin zu ehrenamtlicher Arbeit. Und egal ob in Ost oder West: Zwei Drittel der Helferinnen und Helfer bekamen aus ihrem Umfeld positives Feedback.
Die begleitende „Wir schaffen das“-Rhetorik auf der politischen Ebene war zu diesem Zeitpunkt schon verhallt. Statt dessen schallte es: Boot voll, Schotten dicht. Schon vor Beginn der Coronapandemie sank die Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge stark, 2020 erreichte sie mit 180.000 pro Jahr ein historisches Minimum. Nicht nur hierzulande setzen sich in der öffentlichen Debatte wieder altbekannte Denkmuster durch. Es gab schon immer offiziell erwünschte und offiziell unerwünschte Einwanderung. Dem Werben um Fachkräfte stand die Abschreckung von potenziellen Flüchtlingen durch eine immer rigidere Gesetzgebung gegenüber, von der unwürdigen Unterbringung in Sammelunterkünften und sozialer Ausgrenzung bis zur gewaltsamen Abschiebung.
Dabei sprechen neben humanitären Gründen auch wirtschaftliche Aspekte für kontinuierliche Einwanderung – eine Win-win-Situation für die Länder, die sie zu nutzen wissen. So wirbt der UNHCR mit Erfolgsgeschichten wie der von Toto, einem syrischen Flüchtling, der in Dänemark Aufnahme fand – und inzwischen eine feste Anstellung bei MidtVask hat, einem Wäschereibetrieb für Krankenhäuser. Nicht durch Zufall, sondern mit Absicht. In unserem Nachbarland wurden den Flüchtlingen bezahlte Betriebspraktika im Rahmen eines staatlich finanzierten Programms angeboten, das neben Training on the Job auch Dänischkurse beinhaltet. Für die Privatwirtschaft lohnt sich das, denn Arbeitskräfte sind Mangelware. „Die Leute sagen: Ich habe ein Herz für Flüchtlinge“, so MidtVask-CEO Pernille Lundvang, „Und ich sage: Ja, aber am Ende geht es ums Geschäft.“
In Zukunft setzt das Land aber offenbar auf Lose-lose. Die gerade beschlossene Gesetzesnovelle der sozialdemokratischen Regierung Dänemarks sieht vor: Wer Asyl erhält, soll zukünftig sein Dasein außerhalb des Landes fristen – sprich in vorgelagerten Camps, zum Beispiel in nordafrikanischen „Partnerländern“. Der von der EU-Kommission Ende 2020 präsentierte „New Pact on Migration and Asylum“ geht aber auch schon fast so weit. Vorgeschlagen wird schließlich, Asylsuchende grundsätzlich erst mal in Lagern an den EU-Außengrenzen zu inhaftieren.
Was das bedeutet, zeigt die jahrelange Praxis in Griechenland, wo seit 2015 die meisten Flüchtlinge europäischen Boden betreten. Dass in den völlig überbelegten griechischen Lagern fundamentale Menschenrechte nicht eingehalten werden, hat sogar der Europäische Gerichtshof bestätigt. Passiert ist allerdings nicht viel: Moria etwa, das berüchtigte Lager auf der Insel Lesbos mit zeitweise 20.000 Bewohnern (Aufnahmekapazität: 2.800 Menschen), wurde nach dem verheerenden Brand im letzten Jahr zwar geräumt. Aber im nahe gelegenen Ausweich-Zeltlager Kara Tepe leben die verbliebenen Flüchtlinge nun in einer ähnlich prekären Lage. Insgesamt warten allein auf den griechischen Inseln immer noch Zehntausende Menschen verzweifelt auf eine Besserung der Lage.
Dabei haben sich rund 250 Kommunen in Deutschland und viele weitere Städte und Regionen in der Europäischen Union bereit erklärt, von dort Geflüchtete aufzunehmen. Die drei Bundesländer Berlin, Thüringen und Bremen haben Landesaufnahmeanordnungen erlassen, mithilfe derer sie umgehend Geflüchtete aufnehmen und aus den unmenschlichen EU-Hotspots evakuieren könnten. Doch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat ihre Aufnahme abgelehnt.]
Vor 70 Jahren, im Juli 1951, wurde die Genfer Flüchtlingskonvention von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) verabschiedet. Bis heute ist sie die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. Zugleich ist die Konvention Rechtsgrundlage für das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR). Zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des „Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ im Jahr 2000 erklärte die Generalversammlung der UN den 20. Juni zum jährlichen Weltflüchtlingstag. Zum Feiern gibt es bei der dramatischen Lage von Geflüchteten an vielen Orten weltweit, auch an den Grenzen Europas, allerdings wenig Anlass. Darum gibt es am 19. und 20. Juni in Deutschland bundesweite Aktionstage gegen Menschenrechtsverletzungen an Europas Außengrenzen.
Denn Flüchtlinge werden in der EU vor allem als Sicherheitsproblem gesehen. Eine Win-win-Situation scheint nur für die Verteidigungs- und Sicherheitsbranche zu bestehen. Seit 2016 wurden mehr als 3 Milliarden Euro in die Erforschung von neuer Überwachungstechnik gesteckt. Die Spannbreite reicht von mit künstlicher Intelligenz aufgemotzten Lügendetektoren über Handflächen-Scanner bis hin zu Kameradrohnen. Vieles, was der militärisch-industrielle Komplex schon jetzt herstellt, wird von der finanziell üppig ausgestatteten EU-Grenzagentur Frontex an der mehr als 100 Kilometer langen Hightech-Grenzmauer zwischen Griechenland und der Türkei eingesetzt – etwa Wärmebildkameras oder Schallkanonen.
Die Rettung von Schiffbrüchigen im Mittelmeer müssen dagegen inzwischen Aktivisten aus der Zivilgesellschaft übernehmen, soweit sie nicht von offizieller Seite aktiv daran gehindert werden. Alleine in den letzten acht Jahren wurden mehr als 20.000 Flüchtlinge durch diese unterlassene Hilfeleistung um das Leben gebracht.
Das Gesamturteil zur europäischen Flüchtlingspolitik hat wohl bisher niemand besser zusammengefasst als Jean Ziegler, Soziologe und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter – seine Anfang 2020 erschienene Streitschrift trägt den Titel: „Die Schande Europas“. Auch im Jahr 2021 immer noch die passende Lektüre zum Weltflüchtlingstag.
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