: Experten bezweifeln Lukaschenkos Version
Der belarussische Diktator sagt, die Hamas habe eine Bombendrohung gegen das Ryanair-Flugzeug ausgesprochen. Viele Details sind aber unglaubwürdig
Aus Kiew Bernhard Clasen
Drei Tage nach der Flugzeugentführung und anschließenden Verhaftung der oppositionellen Journalisten Roman Protassewitsch und Sofia Sapega durch den belarussischen KGB geht Diktator Lukaschenko mit Rechtfertigungsversuchen in die Offensive. Bei einem Treffen mit belarussischen Parlamentariern und Staatsbediensteten berichtete er, die Mitteilung über eine Bombe an Bord des Ryanair-Flugzeuges sei über die Schweiz von polnischen IP-Adressen an die E-Mail des Minsker Flughafens gegangen. Darin hätten „Soldaten der Hamas“ Israel zur Einstellung des Feuers im Gazastreifen aufgefordert und von der EU verlangt, die Unterstützung Israels zu stoppen.
Sie hätten mitgeteilt, dass im Flugzeug der Ryanair eine Bombe versteckt sei. Die Mannschaft der Ryanair-Maschine habe sich nach Konsultationen mit ihrer Firma und dem Flughafen von Vilnius für eine Notlandung in Minsk entschieden. Man habe Vertreter der International Air Transport Association (IATA), der Europäischen Behörde für Flugsicherheit (EASA) und der Flugbehörden von EU und USA zur Untersuchung der Umstände vor Ort eingeladen.
Gleichzeitig veröffentlichte die belarussische Luftfahrtbehörde ein Protokoll der Gespräche zwischen Piloten und dem Minsker Flughafen. Dieser Mitschnitt scheint zu bestätigen, dass es die Entscheidung der Piloten war, Minsk anzufliegen.
Gegenüber dem Onlineportal belaruspartisan.by bezweifelt Alexei Wenediktow, Chefredakteur von „Echo Moskaus“, die Darstellung Lukaschenkos und die Authentizität des in englischer Sprache veröffentlichten Mitschnitts.
So würde er sich von einer vor wenigen Tagen von den belarussischen Behörden veröffentlichten Kurzform des Mitschnitts in wichtigen Passagen unterscheiden. Mehrfach gehe aus der Langform des Mitschnitts hervor, dass auf die Piloten Druck ausgeübt worden sei, in Minsk zu landen. Auch die Behauptung der belarussischen Behörden, diese Warnung sei auch bei den Flughäfen von Athen und Vilnius eingegangen, bezweifelt er. Irgendetwas Entscheidendes, schlussfolgert Wenediktow, müsse am 23. Mai zwischen 12.45 und 12.48 Uhr passiert sein. Hätten die Piloten noch um 12.45 Uhr gesagt: „Wir halten die aktuelle Position“, werden sie um 12.48 Uhr mit dem Notruf „Mayday“ zitiert.
Letztendlich könne man erst sicher sagen, was wirklich passiert sei, wenn man den Flugschreiber ausgewertet habe und wenn von den Piloten, die derzeit in Vilnius befragt werden, eine Aussage vorliege, so Wenediktow.
Unterdessen kam es zu einem Eklat zwischen Lettland und Belarus. Nachdem der lettische Außenminister Edgars Rinkēvičs und der Bürgermeister von Riga, Martin Stakis, in Riga vor einem Hotel die Fahne von Belarus durch eine weiß-rot-weiße Flagge, das Symbol der belarussischen Opposition, ersetzt hatten, wurde der lettische Botschafter ins Außenministerium in Minsk einbestellt. Dabei wurden er und die gesamten lettischen Mitarbeiter der Botschaft zum Verlassen des Landes aufgefordert. Als Reaktion forderte auch Lettland die Diplomaten der belarussischen Botschaft zum Verlassen des Landes auf.
Beobachter gehen davon aus, dass die kürzlich verhängten Sanktionen gegen das Land durchaus spürbar sein werden. Jaroslaw Romantschuk, Direktor des Minsker Thinktanks „Analytisches Zentrum Strategie“, sieht auf das Land als Folge der jüngsten Sanktionen ernste Folgen zukommen. Die Einkommen, die Belarus derzeit als beliebtes Transitland für den Personen- und Warenverkehr hat, dürften erheblich zurückgehen, glaubt er. Besonders von den Sanktionen getroffen werden die Fluggesellschaft „Belavia“, der Minsker Flughafen und Logistikunternehmen werden. Insgesamt würde so das Bruttosozialprodukt des Landes um 5 bis 7 Prozent schrumpfen. Lettland, das bisher nicht abgeneigt war, belarussischen Strom zu kaufen, wird sich nun wohl nach Alternativen umsehen. Auch die von der EU eingefrorenen 3 Milliarden Euro würden dem Land fehlen.
Anfang dieser Woche unterschrieb Alexsander Lukaschenko ein neues Gesetz, das die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter einschränkt. Danach, so berichtet die Nowaja Gaseta, dürfen Journalisten nicht mehr Meinungsumfragen oder Links, die angebliche Falschinformationen enthalten, veröffentlichen. Auch soll die Berichterstattung über nicht angemeldete Demonstrationen verboten werden.
Gleichzeitig gehen die Repressionen weiter. So wurde die ins Ausland geflüchtete Journalistin Alina Malinowskaja vom oppositionellen Kanal Belsat von den belarussischen Behörden zur Heimreise aufgefordert. Ansonsten, so drohte man ihr, werde man ihre Angehörigen in Gewahrsam nehmen.
Am Donnerstag entscheidet ein Moskauer Gericht über einen Auslieferungsantrag gegen den oppositionellen Aktivisten Andrei Kasimirow. Ihm drohen bei einer Auslieferung, so die russische Menschenrechtsorganisation „Zivile Unterstützung“, Haft und Folter.
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