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„Ich fotografierte und weinte“

Gilles Peress dokumentierte das Massaker der britischen Armee an irischen Zivilisten am Bloody Sunday. Sein großartiges Werk liegt nun in einer außergewöhnlichen Publikation vor

Von Ralf Sotscheck

Es war der 31. Januar 1972: Eine Teenagerin lief mit ihren Freunden durch die Bogside, das katholische Viertel der zweitgrößten nordirischen Stadt Derry, wo es am Vortag zu einem Massaker gekommen war. Britische Soldaten einer Fallschirmjägereinheit hatten 14 unbewaffnete Bürgerrechtsdemonstranten erschossen.

Das Mädchen, etwa 16 Jahre alt, wurde von einem Mann angesprochen. Er erklärte ihr, dass die Soldaten willkürlich Passanten durchsuchten, und bat sie, ein paar Filmrollen für ihn zu verstecken, weil sie den Soldaten unverdächtig erscheinen würde. Sie packte die Filme in ihren Schlüpfer und gelangte unbehelligt durch die Kontrollen. Später traf sie den Mann in seinem Hotel und gab ihm die Filmrollen zurück. Sein Name war Gilles Peress.

Der französische Fotograf wollte in Derry, das von den probritischen Unionisten Londonderry genannt wird, eigentlich nur die Demonstration fotografieren. Doch plötzlich eröffneten die Soldaten das Feuer. Der Hälfte der Opfer wurde in den Rücken geschossen, so auch dem 31-jährigen Paddy Doherty, als er versuchte, vor dem Rossville-Wohnblock aus der Schusslinie zu kriechen. Peress fotografierte ihn wenige Augenblicke, bevor ihn die Kugeln trafen. Das Foto ging um die Welt. Dohertys Sohn Tony war damals neun Jahre alt. Er trat später in die Irisch-Republikanische Armee (IRA) ein, um den Tod des Vaters zu rächen.

Gilles Peress: „Whatever You Say, Say Nothing“. Steidl Verlag, Göttingen 2021. 3 Bände, 1.295 Ab­­bildungen, 1.960 Seiten, 425 Euro

„Ich fotografierte und weinte gleichzeitig“, sagt Peress. „Ich wollte nicht unsensibel sein, aber ich fühlte mich verpflichtet, die Ereignisse zu dokumentieren.“ Es war das erste Mal, dass er sah, was Waffen anrichten können, sagt er.

Peress, wurde 1946 in Neuilly-sur-Seine, einem Pariser Vorort, geboren. Von 1966 bis 1968 studierte er am Institut d’Etudes Politiques Politikwissenschaft und Philosophie. 1970 fing er an zu fotografieren. Später trat er der Fotografenkooperative Magnum bei. Peress hat wohl in allen Galerien von Rang ausgestellt und mehr als 30 internationale Preise gewonnen. Seit 2008 ist er Professor für Menschenrechte und Fotografie am Bard College in New York.

Außer Peress war ein weiterer Fotograf am Bloody Sunday vor Ort: Fulvio Grimaldi aus Italien. „Unsere Fotos sind so wichtig“, sagt Grimaldi, „weil nur zwei Fotojournalisten da waren, als die Fallschirmjäger schossen und töteten – ich selbst und der Franzose Gilles Peress.“ Die Fotos bewiesen, dass die Soldaten den getöteten Demonstranten Nagelbomben in die Taschen steckten, um sie als IRA-Männer zu denunzieren. Es dauerte dennoch 40 Jahre, bis die teuerste Untersuchung der britischen Geschichte zu dem Ergebnis kam, dass sämtliche Opfer unschuldig und unbewaffnet waren.

Das wusste Peress freilich schon, als er am Bloody Sunday fotografierte. Er kehrte erst acht Jahre später nach Nordirland zurück. In der Zwischenzeit hatte er aus zahlreichen Krisengebieten berichtet: aus Bosnien, aus Ruanda, aus Iran während der Revolution.

Er hat die Geschichte beeinflusst, denn nicht zuletzt durch seine Bilder schaute die Welt zum ersten Mal etwas genauer auf Nordirland

Aber er hatte immer die Idee im Kopf, ein Buch über Nordirland zu machen, das die erfahrene Realität widerspiegelt, sich aber von journalistischen Darstellungsweisen unterscheidet. „Ich wollte Tage beschreiben, an denen sich große Dinge, historische Dinge ereigneten, und ich wollte Tage beschreiben, an denen nichts geschah, unglaublich langweilige, nicht enden wollende Tage“, sagt Peress. „Ich wollte die Textur und die Struktur des Lebens in all seinen Details zeigen: ein Glas Bier, eine Portion Fish ’n’Chips, ein Bett; Unruhen, eine Wiese, ein Vogel, eine Wolke. Kurz, ich wollte all das zeigen, was die Realität ausmacht, all das, was in einer Umgebung, die über eine lange Zeit durch wiederkehrende Gewalt geprägt ist, Existenz und Erfahrung definiert.“

Herausgekommen ist ein ungewöhnliches, beeindruckendes, großartiges Werk, das wie ein Dokumentarfilm wirkt. Peress hat seine Bilder aus mehreren Jahrzehnten 22 fiktionalen Tagen zugeordnet, um die Spirale anschaulich zu machen – wenn jeder Tag zu einer Wiederholung des immergleichen Tages wird. „Ich mache mir nicht viel aus guter Fotografie, ich sammle historische Belege“, sagt er. „Whatever You Say, Say Nothing“ enthält 1.200 Fotos auf knapp 2.000 Seiten in drei Bänden. Der dritte Band, „Annals of the North“von Chris Klatell und Gilles Peress, ist ein englischsprachiger Reader mit Essays, Geschichten, Zeugenaussagen und Fotografien.

Der Titel des Buchs ist zu einem Sprichwort in Nordirland geworden: „Was immer du sagst, sag nichts“ war eine Warnung der IRA an Mitglieder und Sympathisanten, niemandem zu trauen und nichts Unbedachtes zu sagen, denn „unvorsichtiges Gerede kostet Menschenleben“.

Peress hatte damals, 1972, nur wenig Erfahrung als Fotograf. Aber er hat die Geschichte ein bisschen beeinflusst, denn nicht zuletzt durch seine Bilder schaute die Welt zum ersten Mal etwas genauer auf Nordirland. Dieselbe Fallschirmjägereinheit war fünf Monate zuvor im Belfaster Stadtteil Ballymurphy drei Tage lang Amok gelaufen und hatte zehn Menschen ermordet. Aber da waren keine Fotografen anwesend.

Gilles Peress’Bilder vom Bloody Sunday wären wohl verloren gewesen, wenn die Teenagerin die Filmrollen nicht versteckt hätte. Niemand weiß, wer sie ist. Trotz mehrerer Aufrufe und Artikel in nordirischen Zeitungen hat sie sich nicht gemeldet.

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