„Oh Qassam, oh Liebling – zerstör Tel Aviv!“

In Berlin und anderen Städten wurde am Samstag für Palästina demonstriert. Protestierende beschworen die Zerstörung Israels und riefen antisemitische Parolen

Demonstrant-*innen schwenkten in Berlin palästinen­sische Flaggen Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Aus Berlin Kevin Čulina

„Beschießt Tel Aviv, beschießt Tel Aviv, beschießt Tel Aviv“, rufen Hunderte auf der Berliner Sonnenallee auf Arabisch. Es ist kurz vor 16 Uhr am Samstagnachmittag. Palästinaflaggen wehen in der Luft, Kufijas werden hochgestreckt. Wenige Sekunden später knallt es. Böller fliegen auf eine Polizeikette, Flaschen hinterher.

Es folgen Straßenschlachten. Behelmte Polizisten stürmen immer wieder in die Menge, sprühen Pfefferspray. Auf die Flaschenwürfe aus der Masse folgen Pflastersteine. „Allahu akbar“, schreien Hunderte. Zu diesem Zeitpunkt ist die Demonstration zum Tag der Nakba schon aufgelöst, weil keine Abstände eingehalten und kaum Mund-Nasen-Bedeckung getragen wurde. Zuvor rief die Polizei mehrmals zum Verlassen der Straße auf, dem wurde nicht nachgekommen.

Am sogenannten Nakba-Tag versammelten sich insgesamt rund 6.500 Menschen am Samstag in Berlin. Auch in Frankfurt am Main, Stuttgart und Mannheim gingen Menschen auf die Straße. Alljährlich erinnern Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen an den 14. Mai 1948, an die „Katastrophe“ (arabisch: nakba) der israelischen Staatsgründung und der eigenen Vertreibung. Weltweit fanden Demonstrationen statt. Alleine in London versammelten sich laut dortigen Organisatoren 150.000 Menschen, auch in Paris, Madrid und Athen wurde protestiert.

In diesem Jahr fällt der Nakba-Tag in eine Woche der Gewalteskalation im Nahen Osten. Das Netzwerk Samidoun rief international zu Protesten auf. Die Organisation wurde erst im März vom israelischen Staat als Terrorgruppierung eingestuft, sie sei eine „Vorfeldorganisation“ der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), heißt es. Letztere gilt auch der EU als Terrororganisation. Die Demonstrationen sollen der Auftakt für eine „Woche des palästinensischen Kampfes“ werden, der Online-Aufruf wird vom Bild eines mit Maschinengewehr Bewaffneten flankiert.

Am Berliner Hermannplatz, versammeln sich am Samstagnachmittag Tausende. Die meisten sind gehüllt in palästinensische Flaggen, Fahnen der Türkei und Syrischen Republik sind ebenfalls zu sehen. 3.500 Menschen sind insgesamt gekommen, teilt die Polizei auf telefonische Anfrage mit.

Einer von ihnen ist Erol, ein 53-jähriger Berliner mit türkischen Eltern. Er hält ein Porträt des türkischen Präsidenten in die Luft. „Erdoğan ist gegen alle Schweinereien: Faschismus, Zionismus, Imperialismus“, erklärt der Mann. Woran der Frieden in der Welt scheitere, scheint für ihn klar. Israel und die USA würden „die Völker der Welt“ durch „weltweite Verschwörungen“ spalten und unterwandern.

Auf vielen Schildern wird Israel dämonisiert, dem Staat wird etwa ein „Genozid“ oder gar ein „Holocaust“ unterstellt. „Palästina hat es satt, den europäischen Mord an Juden zu bezahlen“, hat eine junge Frau auf ein Pappschild geschrieben.

„Allahu akbar“, schallt es derweil über den Hermannplatz. In der Mitte des Platzes wehen eine Handvoll kleiner roter Fahnen mit gelbem Hammer-und-Sichel-Symbol. „Wir sind Kommunisten“, sagt einer von ihnen. Wie das zu den religiösen Sprechchören passt? Mit einem Journalisten will der Mann nicht sprechen, „das Gespräch ist beendet“, sagt er.

An der Spitze des Aufzugs steht ein Mann, Mitte 20. „Gaza dafür zu kritisieren, dass sie mit Bomben zurückschlagen, ist genauso, wie eine Frau zu kritisieren, die ihre Vergewaltiger schlägt“, steht auf seinem Schild. Die 2.300 Raketen, die auf Israels Städte geschossen wurden, nennt er „harmlos“ und lacht: „Die Raketen aus Gaza machen nichts, vielleicht geht mal ein Auto kaputt“.

Die Demonstration bewegt sich kurz nach 15 Uhr in die Sonnenallee. „Kindermörder Israel“, rufen einige. „Viva, viva Palästina“, andere. Aus vielen Fenstern hängen Palästinaflaggen, An­woh­ne­r*in­nen bejubeln den Protestzug. Islamistische Parolen und Symbole mischen sich mit antiisraelischen Boykottaufrufen, einigen roten Flaggen und vereinzelten Hammer-und-Sichel-Fahnen. Einzelne verwenden Stirnbänder im Stile der Hamas. Jour­na­lis­t*in­nen werden regelmäßig bedroht, „Lügenpresse“ schreit es ihnen entgegen, einige werden gar zum Kampf aufgefordert.

Im vorderen Bereich werden klar antisemitische Parolen und antiisraelische Vernichtungswünsche gerufen. „Oh Qassam, oh Liebling – schlag zu, zerstör Tel Aviv“, ruft ein Pulk junger Männer auf Arabisch. Oder: „Chaibar, Chaibar, ihr Juden, Mohammeds Heer kommt bald wieder.“ Sie beziehen sich damit auf einen Angriff der Truppen Mohammeds auf eine jüdische Ortschaft im Jahr 628. Niemand stört sich daran. Mittendrin beklagt jedoch ein Plakat, dass Kritik an Israel noch kein Antisemitismus sei.

Nach wenigen Hundert Metern ist Schluss. Die Polizei hält den Demonstrationszug auf, ruft mehrfach aufgrund der Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz zum Verlassen des Protestzuges auf. Doch daran denkt die Masse nicht. Als die Polizei ankündigt, nun zu „unmittelbarem Zwang“ zu greifen, eskaliert die Lage. „Ihr Juden!“, brüllt ein aufgebrachter Mann der Polizei immer wieder entgegen. Erst gegen 17.30 Uhr ist die Versammlung beendet, davor schießen Demonstrierende Dutzende Böller und Feuerwerk auf die Polizei, Flaschen und Steine fliegen hinterher.

Zur selben Zeit bewegt sich ein Demonstrationszug aus Kreuzberg in Richtung Neukölln. Etwa 2.500 sind dem Aufruf von „Palästina spricht“ gefolgt, schätzt die Polizei am Samstagabend. Zwar wirkt das Publikum der Demo, kurz bevor sie Neukölln erreicht, hier deutlich alternativer und linker. Eine Fahne der Linkspartei ist zu sehen, die antiisraelische Boykottkampagne BDS ist da, es wird zur „Dekolonisierung“ Israels aufgerufen. Und auch hier wird nicht viel vom Existenzrecht Israels gehalten: „1, 2, 3, 4 – Israel no more!“, rufen einige. „Israel bombardiert, Deutschland finanziert“, steht etwa auf Plakaten.

„Ihr Juden“ brüllt ein aufgebrachter Mann den Po­li­zis­t*in­nen immer wieder entgegen

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin zeigte sich bereits im Vorfeld besorgt. „Das Existenzrecht Israels wird dort schlicht negiert“, sagte Sigmount Königsberg der taz. „Das hat nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun, das ist reiner Antisemitismus“, so der Antisemitismusbeauftragte der Berliner Gemeinde. „Wir haben noch die Bilder aus 2014 im Kopf“, zeigte sich Königsberg besorgt mit Blick auf antisemitische Proteste anlässlich des damaligen Kriegs in Israel und Gaza.

Angesichts zunehmender antisemitischer Vorfälle in ganz Deutschland wurden entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen, teilte die Berliner Gemeinde am Freitag mit. Eltern hätten zunehmend Sorge vor antisemitischen Attacken auf ihre Kinder in den Schulen und Kindergärten in Berlin, erzählte Königsberg.

In Frankfurt am Mai demonstrierten am Samstag laut Polizei rund 2.500 Menschen für ein freies Palästina. Viele Teil­neh­me­r*in­nen kamen mit palästinensischen Fahnen. Die Polizei löste die Versammlung auf, da es den Angaben zufolge Verstöße gegen die Auflagen gegeben hatte.

In Hamburg wurde eine Demonstration ebenfalls aufgelöst. Die Stimmung unter den 400 bis 500 Teil­neh­me­r*in­nen sei hoch emotionalisiert gewesen und habe sich weiter verschärft, als Personen mit Israelflaggen erschienen, sagte ein Sprecher der Polizei. In Köln demonstrierten rund 800 Menschen gegen Israel und für Palästina. Sie schwenkten unter anderem auch Schilder mit der Aufschrift: „Gegen Zionisten – nicht gegen Juden.“ In Stuttgart kam es bei einer Kundgebung von „Palästina spricht“ zu tumultartigen Szenen. In Gelsenkirchen hatten De­mons­tran­t*in­nen Tage zuvor „Scheiß Juden“ skandiert beim Zug in Richtung einer Synagoge.

„Protest ja, Gewalt, Antisemitismus und Hetze, nein“, teilte Berlins Innensenator Andreas Geisel am Samstagabend über Twitter mit. Die Polizei wirkte überrumpelt von den Massen am Samstag. Eine Auswertung der Proteste stehe noch aus, teilte Martin Dams von der Pressestelle der Berliner Polizei auf taz-Anfrage mit.

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