Klimaneutral wäre schon bis 2045 machbar

Studie: Mehr Ökostrom, E-Autos und Sanierung machen Netto-Null in Deutschland schneller möglich

„Wir brauchen Investitionen first und Bedenken second“

Patrick Graichen, Agora Energiewende

Von Bernhard Pötter

Klimaneutralität bis 2050 sei eine „Herkules­aufgabe“, warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel letzte Woche beim US-Klimagipfel. Dieser Kraftakt könnte noch schneller gehen, ergibt nun die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ der Thinktanks Agora Energie- und Verkehrswende und der Stiftung Klimaneutralität, die am Montag vorgestellt wurde. Dafür müssten schneller erneuerbare Energien ausgebaut werden, mehr E-Autos fahren, schneller Gebäude saniert werden und Industrieanlagen früher umgebaut werden. Damit verschärfen die Öko-Thinktanks ihre Studie „Klimaneutrales Deutschland 2050“ vom vergangenen Herbst.

„Klimaschutz in Deutschland, das ist bisher ein ICE im Regionalzugtempo“, sagte Patrick Graichen, Chef der Agora Energiewende. „Die nächste Bundesregierung muss in den nächsten drei bis fünf Jahren Tempo machen und es halten.“ Die Studie liest sich wie ein Köder für eine mögliche schwarz-grüne Bundesregierung. Die Ökos lockt man damit, dass dem Klima durch die schnellere Zielerreichung fast eine Milliarde Tonnen CO2 erspart bleiben würden. Und der Union verspricht das Gutachten Wachstum, Innovation und globale Wettbewerbsfähigkeit. Im Wettrennen um die Märkte der Klimaneutralität „müssen wir als Technologieland vor den anderen sein“, sagte Graichen. Beide Pläne für 2045 und 2050 setzen auf grünes Wachstum und Technologie, nicht auf Verzicht oder Postwachstum.

Ein Klimaziel von minus 65 Prozent CO2 für 2030 ist die Basis, bis dahin sollten 70 Prozent des Stroms vor allem aus Wind und Sonne kommen. 2045 braucht es laut Gutachten 385 Gigawatt (GW) an Photovoltaikleistung, 70 GW mehr als bisher geplant. Auch Wind an Land und offshore müssten um 17 auf 145 GW und um 9 auf 70 GW zulegen. Jedes Jahr würden für das 2045-Szenario 1,75 Prozent aller Gebäude energetisch saniert, Wasserstoff und Biomasse in der Industrie kämmen früher als bislang geplant und bereits 2030 wären 14 Millionen Elektroautos unterwegs. Ab 2032 wären Neuzulassungen von Diesel-, Benzin- oder Hybridmotoren verboten, es gäbe mehr öffentlichen Verkehr, emissionsarmen Güterverkehr und mehr synthetische Treibstoffe für Schiffe und Flugzeuge. Die Tiermast nimmt in diesem Szenario deutlicher ab als vorgesehen und es werden mehr Moorböden vernässt. Nötig wären auch Regeln, um unvermeidliche CO2-Emissionen aus Industrie und Landwirtschaft über die umstrittene CCS-Technik einzusammeln und zu entsorgen – etwa in der norwegischen Nordsee.

Die Regierung müsse bei der Energiewende „die Beamtenmentalität ablegen“, forderte Graichen. „Investitionen first, Bedenken second“, formulierte der Agora-Chef in Anlehnung an den FDP-Slogan „Digital first, Bedenken second“. Die Politik müsse Akzeptanzprobleme angehen und eine Regelung für Erneuerbaren-Flächen schaffen, insgesamt eine Mischung aus Förderung, Verboten und Marktwirtschaft vorlegen. Die zusätzlichen Ausgaben beziffert das Gutachten kaum höher als für die 2050er Pläne: Statt 70 Milliarden Euro brauche man wohl 80 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspricht nur etwa 15 Prozent dessen, was an Investitionen insgesamt zu erwarten ist.